Sonderlich spannend ist der Alltag von Claudine (Jeanne Balibar) nicht. Ein Grund dafür ist ihr 17-jähriger, geistig beeinträchtigter Sohn Baptiste (Pierre-Antoine Dubey), um den sie sich kümmern muss. Und das allein, der Vater ist vor vielen Jahren schon abgehauen und will von all dem nichts mehr wissen. Um selbst diesem Leben zu entkommen, nimmt sich Claudine einmal die Woche eine Auszeit und fährt in ein Berghotel, auf der Suche nach Männern. Dabei geht es ihr nur um anonymen Sex, sie hat kein Bedürfnis, diese Leute im Anschluss noch einmal wieder zu sehen. Ihre eigenen Bedürfnisse sollen befriedigt werden, wenigstens einmal die Woche. Das funktioniert, der Ausbruch tut ihr gut – bis sie Michaël (Thomas Sarbacher) kennenlernt. Denn der will mehr sein als nur eine flüchtige Bettbegegnung …
Wenn aus Sex mehr wird
Kann es Sex ohne Liebe geben? In Filmen wird diese Frage immer wieder gestellt, meistens am Ende verneint. Da geht es dann um Menschen, die alles ganz locker und unverbindlich haben wollen, das Zwischenmenschliche als Mittel zum Zweck der Befriedigung aufgefasst wird, bis es auf einmal doch ernst wird. Freundschaft Plus und Freunde mit gewissen Vorzügen erzählten 2011 solche Geschichten von Paaren, die keine Paare sein wollen, bis sie es dann doch sind. Vergleichbare Filme werden noch immer eifrig produziert, das Publikum soll sich daran erfreuen, dass jemand die große Liebe gefunden hat. Zumindest teilweise geht auch Fass mich an in diese Richtung, wobei der Schweizer Film sicherlich eine andere Intention hat und in mehrfacher Hinsicht eine andere Richtung einschlägt.
So handelt es sich hierbei nicht um eine Liebeskomödie, bei der immer wieder peinliche Situationen zum Lachen animieren sollen. Regisseurin und Drehbuchautorin Maxime Rappaz nimmt ihre Protagonistin ernst, nimmt auch ihre Bedürfnisse ernst. Fass mich an ist ein leises Drama über eine Frau, die endlich einmal etwas erleben und spüren möchte. Das schafft prinzipiell einiges an Identifikationsfläche. Zwar dürfte es eher weniger Leute geben, die in einer solchen Situation in ein Hotel fahren und anonymen Sex haben. Vor allem nicht systematisch. Die Sehnsucht danach, das eigene eintönige Leben hinter sich zu lassen und wieder etwas zu erleben, damit dürfte der Schweizer Film aber einigen von der Seele sprechen. Wenn sich Claudine um ihren besonderen Sohn kümmern muss, ohne Hilfe, dann ist das schon etwas, bei dem man theoretisch mitfühlen kann.
Auf Distanz geblieben
Praktisch ist sie aber auf seltsame Weise unnahbar, wenn sie niemanden an sich heranlässt. Natürlich muss ein Film nicht immer das Innerste nach außen kehren. Es gibt mehr als genug, bei denen es übertrieben dramatisch wird, dann irgendwelche große Momente heraufbeschworen werden, gern unterstützt von einer manipulativen Musik. Da ist es angenehm, wenn mal ein bisschen Zurückhaltung geübt wird, zumal es ja auch inhaltlich passt bei einer Frau, die ihr Inneres zurückstecken muss. Bei Fass mich an führt das aber dazu, dass man irgendwann schlicht das Interesse an Claudine verlieren kann, weil da einfach nichts kommt. Sie ist weder sympathisch noch tiefgründig genug, als dass man unbedingt Anteilnahme zeigen müsste. Jeanne Balibar (Verlorene Illusionen) holt einen nicht ab.
Es ist auch nicht so, dass der Film eine nennenswerte gesellschaftliche Komponente hat, der Verweis auf den tragischen Tod von Prinzessin Diana bleibt ohne Konsequenz. Dafür hat das Schweizer Drama, das 2023 in der Cannes Parallelsektion ACID Premiere feierte, schöne Bilder aus der Berglandschaft zu bieten. Fass mich an handelt von einer Auszeit der Protagonistin und liefert die passenden Aufnahmen dafür, wenn man hier das Gefühl hat, in eine andere Welt zu verschwinden. Das macht den Inhalt aber nicht interessanter. Grundsätzlich ist das Thema zwar wichtig und sympathisch, wenn eine nicht mehr ganz junge Frau mehr sein darf und die Chance bekommt, etwas aus ihrem Leben zu machen, anstatt nur für andere da zu sein. Das allein macht hieraus aber keinen interessanten Film.
OT: „Laissez-moi“
Land: Schweiz, Frankreich
Jahr: 2023
Regie: Maxime Rappaz
Drehbuch: Maxime Rappaz
Musik: Antoine Bodson
Kamera: Benoît Dervaux
Besetzung: Jeanne Balibar, Pierre-Antoine Dubey, Thomas Sarbacher
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