Auch wenn es letztendlich nur eine Zahl ist, hat sie doch eine gewaltige Symbolwirkung: 100 Jahre. Viele Menschen träumen davon, dieses Alter zu erreichen und damit Mitglied eines sehr exklusiven Clubs zu werden. Zwar werden diese immer mehr, weltweit schätzt man die Zahl derzeit auf 935.000. Dennoch, in Relation zur Gesamtzahl ist das schon sehr wenig. Umso größer ist das Interesse an Menschen, die diesen Meilenstein geschafft haben. Die Netflix-Doku Wie wird man 100 Jahre alt? – Die Geheimnisse der Blauen Zonen etwa stellte Hypothesen auf, was man tun kann, um so alt zu werden. Mit Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte kommt nun ein Dokumentarfilm in die Kinos, der ebenfalls in diesem Themenbereich spielt.
Aus dem Leben fünf betagter Frauen
Der Schwerpunkt ist aber ein anderer. Regisseur Uli Gaulke interessiert sich weniger für Biologie, Ernährung oder andere Faktoren, die zur Langlebigkeit beitragen können. Wie schon in seinem Film Sunset Over Hollywood, bei dem es um ein besonderes Seniorenheim rund um Leute aus der Filmindustrie ging, stellt er die Menschen in den Mittelpunkt. Genauer hat er sich für Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte fünf Menschen ausgesucht, die dieses fortgeschrittene Alter erreicht haben und über ihre Erfahrungen sprechen können. Im Fall von V. Nanammal, die als Yogalehrerin arbeitete, gibt es schon ein paar Gesundheitstipps, die aber kaum als repräsentativ gewertet können. Sie ist übrigens die große Ausnahme in der Runde, da sie mit bereits 99 Jahren verstorben ist, was aber gern mal unter den Teppich gekehrt wird. So genau wollte man das mit dem Symbol dann doch nicht nehmen.
Aber es geht wie gesagt auch weniger um das Alter an sich. Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte lässt die fünf Frauen auf ihr Leben zurückblicken und teilt mit dem Publikum die eigenen Erfahrungen. Die sind kaum miteinander zu vergleichen, auch weil die fünf aus fünf verschiedenen Ländern kommen. Wer an der Gründung des Staates Israel mitgewirkt hat, hat natürlich andere Erfahrungen gesammelt als jemand, der in Indien Yoga unterrichtet oder sich in der Türkei für die Rechte von Frauen einsetzt. Allgemeingültiges kann man deshalb nicht erwarten. Der Film hat insgesamt zwar schon eine feministische Ausrichtung, wenn sich die Protagonistinnen einen Platz in der Welt erkämpft haben. Daraus ergibt sich aber keine wirkliche Aussage, die man mitnehmen könnte.
Sehenswerter Rückblick
Interessant ist der Film aber auch so. Der Reiz der Doku liegt zum einen in den Lebensgeschichten an sich. Wenn Ilse Helbich etwa mit 80 ihren ersten Roman veröffentlicht, dann ist das schon etwas Besonderes. Oder auch Haydée Arteaga Rojas, die sich in Kuba einen Namen als Geschichtenerzählerin gemacht hat. Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte ist über das individuelle Schicksal hinaus aber auch notgedrungen ein Zeitporträt, wenn die Protagonistinnen auf die letzten hundert Jahre zurückblicken. Sie sind, zum Teil zumindest, Zeuginnen sich wandelnder Länder, einer sich wandelnden Welt. Da treffen dann Wissenschaft, Politik und Spiritualität aufeinander.
Ein Austausch zwischen diesen Frauen findet leider nicht statt, es bleibt bei einem irgendwie willkürlichen Mosaik. Und natürlich hat Gaulke keine ganz alltäglichen Geschichten ausgesucht, sondern wollte besondere Menschen vorstellen. Auch das führt dazu, dass Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte nicht die Universalität hat, die man von einem solchen Dokumentarfilm erwarten könnte. Dass die fünf hundert sind, ist letzten Endes unwichtig, was manche enttäuschen könnte. Wen das nicht stört, findet hier aber einen sehenswerten Film, der eine Menge zu erzählen hat und losgelöst von Lebenserwartungen inspirierend sein kann.
OT: „Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte“
Land: Deutschland
Jahr: 2024
Regie: Uli Gaulke
Drehbuch: Uli Gaulke
Musik: Ari Benjamin Meyers
Kamera: Axel Schneppat, Uli Gaulke
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