Bislang führte Edith Swan (Olivia Colman) ein braves, gottesfürchtiges Leben, das von Routine geprägt ist sowie von Gehorsam gegenüber ihren Eltern Edward (Timothy Spall) und Victoria (Gemma Jones), bei denen sie auch mit über 40 noch lebt. Doch das ändert sich, als sie eine Reihe obszöner Briefe erhält, in denen sie aufs Übelste beleidigt wird. Nachdem sie eine Zeit lang vergeblich hoffte, dass diese Briefe von sich aus ein Ende nehmen, sucht sie Hilfe bei der Polizei. Chief Constable Spedding (Paul Chahidi) und Constable Papperwick (Hugh Skinner) haben die Schuldige schnell gefasst: Rose Gooding (Jessie Buckley), die Nachbarin von Edith. Als sich die beiden kennenlernten, waren sie sich durchaus freundlich gesinnt, auch wenn die aufbrausende, trinkfreudige Rose das genaue Gegenteil ist. Doch inzwischen würdigen sie sich keines Blickes mehr, was sie zur idealen Schuldigen macht. Nur Polizistin Gladys Moss (Anjana Vasan) zweifelt an dieser Erklärung, kann aber nicht viel ausrichten, da sie als Frau nicht ernstgenommen wird …
Bösartige Angriffe in hübschen Buchstaben
Anonyme Hassnachrichten? Das ist in der heutigen Zeit eigentlich Alltag, die Anonymität des Internets sowie das Gefühl, es handele sich um einen rechtsfreien Raum, verleiten viele Leute dazu, jeglichen zwischenmenschlichen Anstand in die Tonne zu treten. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass die Menschen deswegen heute schlechter sind. Es ist nur einfacher, dieser schlechten Seite nachzugehen. Früher musste man noch umständlich Briefe schreiben. In Agatha Christies Die Schattenhand etwa musste Miss Marple das Geheimnis solcher Schmähkorrespondenzen lösen, Anfang der 1940er wohlgemerkt. Noch älter ist ein realer Fall, der sich in den 1920ern in der Küstenstadt Littlehampton zugetragen hat und der unter dem Namen Littlehampton Libels bekannt wurde. Auch dort ging es um bösartige Briefe. Dieser Vorfall diente als Inspiration für Kleine schmutzige Briefe.
Damals fragten sich nicht nur die Opfer und die Polizei, wer hinter diesen geschmacklosen Attacken stecken könnte. Auch die Bevölkerung rätselte mit und suchte nach Schuldigen. Bei Kleine schmutzige Briefe ist das ebenso, wenn die Geschichte die Runde macht. Dabei ist die Suche nach Antworten nicht der Mittelpunkt. Klar, ein bisschen mitraten darf man schon. Anders als aber das obige fiktionale Beispiel ist das hier kein reiner Krimi, kein Whoddunit. Es ist auch nicht sonderlich schwierig, von sich aus auf die Lösung zu kommen. Zum einen gibt es wenig Alternativen. Zum anderen gibt es eine Reihe von Hinweisen. Und selbst wer nicht die richtige Person errät, muss nicht lange warten, die Auflösung erfolgt relativ früh.
Gefangen in einer frauenfeindlichen Gesellschaft
Statt des Rätselfaktors sind es zwei andere Punkte, die den Film definieren. Da ist zum einen der Humor. Die Figuren sind größtenteils überzeichnet und werden von den Darstellern und Darstellerinnen auch entsprechend gespielt. Das zieht sich durch das gesamte Ensemble, ob es nun die bigotten Eltern von Edith sind, die tratschenden Mitbürgerinnen oder auch die Polizisten, man spielt da gern und ausgiebig mit Karikaturen. Und auch die Ermittlungen haben in Kleine schmutzige Briefe etwas Humoristisches: Da werden zum Teil schon eigenwillige Methoden gewählt, um an die Wahrheit zu kommen. Das macht alles Spaß. Selbst wenn die Geschichte zwischendurch nicht so wirklich vom Fleck kommt, wird man von diesen schrulligen Charakteren gut unterhalten.
Und doch ist das Ganze keine reine Blödelei, die sich nur über die Leute lustig macht. Vielmehr ist der Film, der auf dem Toronto International Film Festival 2023 Premiere feierte, ein zum Teil überraschend ernstes, gar tragisches Werk. So erzählt Regisseurin Thea Sharrock (Ein ganzes halbes Jahr) von drei sehr unterschiedlichen Frauen, die jeweils auf ihre Weise in einer Gesellschaft gefangen sind, die ihnen kein Mitspracherecht gewährt. Während Rose aber, zum Teil zumindest, offen dagegen rebelliert und Edith sich dem Ganzen gefügt hat, steht Gladys dazwischen. Sie will sich nicht fügen, will nicht tatenlos zusehen, wie Rose ohne Beweise hinter Gitter gesteckt wird. Sie kann aber auch nicht den offenen Kampf aufnehmen, zu sehr ist sie darauf bedacht, das System zu stützen – schließlich war ihr Vater, das große Vorbild, bereits Polizist. Durch die Kombination der drei so unterschiedlichen Protagonistinnen gelingt ein überraschend vielschichtiges Porträt mit klarer feministischer Ausrichtung, welches aber unterhalten, nicht umerziehen will. Das funktioniert gut. Es macht Spaß, der Spur der giftigen Briefe zu folgen und sich auf eine Zeitreise zu begeben, die erstaunlich aktuell ist.
OT: „Wicked Little Letters“
Land: UK
Jahr: 2023
Regie: Thea Sharrock
Drehbuch: Jonny Sweet
Musik: Isobel Waller-Bridge
Kamera: Ben Davis
Besetzung: Olivia Colman, Jessie Buckley, Anjana Vasan, Malachi Kirby, Timothy Spall, Joanna Scanlan, Gemma Jones, Lolly Adefope, Eileen Atkins, Alisha Weir, Paul Chahidi, Hugh Skinner
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