Ofir Raul Graizer ist ein israelischer Regisseur, Drehbuchautor, Produzent und Editor. Mit seinem Spielfilmdebüt The Cakemaker 2017 erreichte er ein internationales Publikum und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Von der Israelischen Filmakademie wurde The Cakemaker in den Kategorien Bester Film und Beste Regie ausgezeichnet und auf dem Berlin Jewish Film Festival in den Kategorien Beste Regie und Bester Israelischer Film. Darüber hinaus wurde The Cakemaker für die Oscarverleihung 2019 als israelischer Beitrag in der Kategorie Bester nicht-englischsprachiger Film eingereicht.
Abgesehen von seiner Tätigkeit als Filmschaffender ist Graizer zudem begeisterter Koch. 2018 erschien mit Ofirs Küche. Israelisch-pälestinensische Familienrezepte ein Kochbuch, das inspiriert ist von der Küche, die seine Familie prägte. Zudem bietet er regelmäßig Kochkurse in seiner derzeitigen Heimat Berlin an.
Am 7. März 2024 startet mit America Graizers zweiter Spielfilm in den deutschen Kinos. Im Interview erzählt er über die Idee zu America, die Themen des Filmes und die Figuren.
Ich habe gelesen, dass du die Idee zu America hattest, während du The Cakemaker in den USA promotet hast. Wie kam es dazu?
Die USA kannte ich, bevor ich dorthin eingeladen wurde durch den Filter von Film- und Fernseherzählungen. Da The Cakemaker in Chicago auf einem Filmfestival lief, wurde ich eingeladen und hatte so Gelegenheit, zum ersten Mal das Land wirklich zu erleben und zu sehen.
Ich wollte schon lange die Geschichte eines Menschen erzählen, der in seine Heimat zurückkehren muss. Als ich dann in Chicago war, in der Nähe des Lake Michigan, konkretisierte sich diese Idee dann mit der Zeit. Ich hatte da schon den Gedanken, dass es um einen Schwimmlehrer gehen könnte, der in Chicago lebt, und wegen einer Familienangelegenheit zurück nach Israel gehen muss, obwohl er das eigentlich nicht will. Als ich dann zurück in Berlin war, wollte ich wieder zurück nach Chicago. In der kurzen Zeit hatte ich eine Verbindung zu Chicago aufgebaut, so wie Eli in America.
Wenn ich so eine konkrete Idee habe, kommen automatisch weitere Verknüpfungspunkte dazu, natürlich der Bezug zu Israel, aber auch der Bezug zur Natur.
In deiner Biografie erscheint Amerika wie ein Sehnsuchtsort, was es auch für die Figuren in America ist. Zugleich geht es um die Sehnsucht, zu fliehen, zu entkommen und sich irgendwohin zurückziehen zu können. Was findest du an diesen Themen faszinierend?
Unsere Erinnerungen sind ein Teil von uns, sodass es unmöglich ist, vor ihnen davonzulaufen. Ich finde es als Geschichtenerzähler interessant, von Figuren zu schreiben, die aber genau das versuchen. Sie versuchen, ein neues Leben und eine neue Identität aufzubauen, fernab der Erinnerungen. Es gibt Menschen, wie Iris in America, die das schaffen und das finde ich, ist ein großer persönlicher Erfolg. Iris hat ein eigenes Geschäft und einen Mann geheiratet und sich losgesagt von der Religion und der Tradition, die ihre Kindheit und Jugend ausmachte. Dennoch gibt es immer noch diese Verbindung zu dem Zuhause, das man verlassen hat, es gibt dieses Loch und diesen Schmerz im Menschen, dass dieses Zuhause noch irgendwo vorhanden ist, man es aber nicht mehr betreten kann oder sollte.
Ich glaube, viele Menschen können an diesen Punkt gelangen. Menschen, die aus Krisengebieten kommen, mit ihrer Sexualität hadern oder den Traditionen ihrer Familie, werden sicherlich irgendwann an einen Punkt kommen, an dem es keinen Weg weiter gibt. Man kann viel besprechen beim Abendessen mit der Familie, aber ab einem Punkt kommt man einfach nicht weiter.
Sowohl The Cakemaker als auch America sind in meinen Augen Filme, die einen starken politischen Unterton haben. The Cakemaker kann man auf der Seite als Beziehungsdrama sehen, doch abgesehen davon geht es auch um Themen wie Identität und die Beziehung Deutschlands zu Israel. Wie verhält sich das bei America?
Das ist sehr ähnlich. Einerseits ist America ein Drama über Freundschaft, doch andererseits geht es zugleich um Menschen, die sich entschieden haben, kein Teil von ihrem Land, in diesem Falle Israel, mehr sein wollen. Eli kehrt gegen seinen Willen dorthin zurück und legt alles darauf an, so schnell es geht, von dort wieder weg zu kommen. Seine Schuldgefühle halten ihn dort. Lediglich in der Natur fühlt er sich wohl, weil es dort keine Grenzen und Nationen gibt, nur Schönheit. Dort ist er glücklich.
Dann ist da auch noch die Sache mit Elis Vater. Er ist ein Kriegsheld und wird respektiert in seinem Land, doch er ist auch ein typischer Macho. Für Eli ist er ein Monster, sodass man verstehen kann, warum er so schnell es geht, wieder weg will, von den Erinnerungen, die ihn in seinem Elternhaus umgeben. Seine Entscheidung, sich von Israel abzuwenden ist persönlich, aber eben auch politisch in meinen Augen. Dieser Konflikt findet sich ebenso in den anderen Figuren in America wieder. Sie können mit dem Israel, in dem sie wohnen, nicht so viel anfangen und flüchten sich daher in etwas ganz Eigenes.
Deine Filme spielen oft auf die Sinne des Zuschauers an und machen einen Akt wie beispielsweise das Backen in The Cakemaker oder das Zusammenstellen eines Blumenarrangements in America sehr sinnlich. Wie planst du solche Sequenzen als Autor, aber auch dann beim Dreh mit deiner Crew?
Beim Drehen eines Filmes spielen für mich zwei Aspekte eine Rolle. Zum einen verfolge ich einen dokumentarischen Ansatz, denn alles muss natürlich auf den Zuschauer wirken und muss es demnach auch für die Schauspieler sein. Zum anderen gibt es eine poetische Ebene.
Die Schauspieler setzten sich mit dem Thema ihrer Figuren auseinander, um ein Gefühl für deren Leidenschaften zu bekommen. Tim Kalkhof, der in The Cakemaker den Bäcker spielt, hat als Vorbereitung für die Rolle in der Bäckerei seiner Eltern in Heidelberg gearbeitet. Michael Moshonov, der Eli spielt, hat professionellen Schwimmunterricht genommen, während Oshrat Ingedashet für ihre Rolle der Iris in America in einem Blumenladen arbeitete. In den Szenen, in denen sie dann diese Handlungen durchführen müssen, die sie gelernt haben, machen sie das einfach, ohne darüber nachzudenken. Durch Aspekte wie die Kamera und das Licht gebe ich dieser Handlung eine andere Ebene, eine poetische. Das Zusammenspiel dieser beiden Ebenen, des dokumentarischen und des poetischen, kreiert das Sinnliche in meinen Filmen.
Wenn ich eine fünfstündige Aufnahme von jemandem habe, wie er oder sie Teig knetet, dann ist das doch noch nichts. Der Akt an sich, des Kochens, des Backens oder des Pflanzens ist in meinen Augen etwas Heiliges, aber wenn es einfach nur abbilde, dann verstehe ich das nicht als Zuschauer.
Ist das auch etwas, das du den Besuchern deiner Kochkurse oder der Leserschaft deines Buches Ofirs Küche nahebringen willst?
Wenn ich den Akt des Kochens oder Backens im Film zeige, gebe ich ihm immer eine Bedeutung. Allein schon, weil es etwas mit den Figuren und der Geschichte zu tun hat.
Wenn ich selbst in der Küche stehe, koche und backe, dann ist das etwas ganz Alltägliches für mich. Natürlich genieße ich es, versteh mich nicht falsch, aber Kochen ist im Grunde so natürlich wie Wasser trinken für mich. Deswegen mag ich diese ganzen Kochshows und -wettbewerbe im Fernsehen auch nicht, denn Kochen ist kein Wettbewerb und sollte es auch nie sein. Dass man zusammen kocht, finde ich toll, aber wenn man sich gegenseitig für seine Speisen danach Punkte geben muss, finde ich das irritierend.
Über diese Handlungen wird in deinen Filmen viel angedeutet, anstatt es explizit, beispielsweise über Dialoge, ausgesprochen wird. Findest du, dass dies eine Qualität ist, die man besonders im modernen Kino vermisst?
Das ist schwierig für mich zu beantworten, weil ich vor allem vom Mainstreamkino wenig Ahnung habe. Versteh mich nicht falsch, ich liebe das Kino der 80er und 90er Jahre, weil es dort im Mainstreamkino viele Werke gab, die wirklich Qualität haben. Man hatte bestimmte Schauwerte, aber es gab auch Substanz. Das heutige Mainstream- oder Blockbusterkino dagegen ist einfach nur Mist. Zuletzt habe ich mich von meinen Freunden dazu überreden lassen, Barbie zu schauen, aber ich konnte den Film schon nach wenigen Minuten nicht mehr ertragen. Ich verstehe nicht, was die Leute an solchen Werken finden.
Film kann alles sein, von bloßer Unterhaltung bis hin zum politischen Kino. Er kann sich mit vielen Themen befassen oder einfach den Zuschauer nur einen schönen Abend bringen. Das ist alles okay. Das Problem ist, dass das heutige Mainstreamkino zu 99 Prozent einfach keine Qualität hat. Wenn ich heutzutage einen Superheldenfilm sehe, ist der einfach nur laut und bombastisch, aber dahinter ist nichts.
Dagegen sind die Serien viel besser gemacht. Vergleiche einmal eine Kampf- oder Massenszene in Game of Thrones mit einer in einem beliebigen Marvel-Film und da tun sich Welten auf.
Wenn man einen Film dreht, trifft man eine Entscheidung und wenn man sich genauer mit den einzelnen Einstellungen befasst, verstehst du diese. Du verstehst, warum der Schnitt so ist und nicht anders oder warum die Kamera vielleicht fest ist und nicht beweglich. Im heutigen Mainstreamkino werden diese Entscheidungen, meiner Meinung nach, nicht mehr getroffen, es ist alles beliebig.
Es gibt in vielen Haushalten die Tradition, dass man zu einem guten Film auch eine Mahlzeit reicht. Welche Mahlzeit würdest du zu America servieren?
Das wäre Hausmannskost. Es wäre sicherlich lange gekochtes Gemüse, zum Beispiel Paprika und Zwiebel. Die werden dann lange im Topf gekocht und nach einer Weile gibst du große Stücke geschälter Kartoffeln dazu. Das wird dann noch einmal circa 20 Minuten gekocht.
Ich glaube, so ein Gericht würde ich zu America servieren. Auf jeden Fall muss es eine Speise sein, die das Herz erwärmt.
Vielen Dank für das nette Gespräch.
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