Der Arzt Marco Carrera (Pierfrancesco Favino) hat nicht die Frau geheiratet, die er seit seiner Jugend liebt. In den frühen 1970er Jahren, im Urlaubsdomizil der Eltern, traf er sich am Strand mit der Tochter der französischen Nachbarsfamilie. Es war die Nacht, in der sich seine Schwester umbrachte. Auch als verheirateter Mann schreibt Marco, der in der Kindheit den Spitznamen Kolibri bekam, seiner großen Liebe Luisa (Bérénice Bejo) Briefe und trifft sich ab und zu mit ihr, aber er lässt die Beziehung aus Angst vor Verlust nie intim werden. Seine psychisch labile Frau Marina (Kasia Smutniak) kommt ihm auf die Schliche und ihr Psychoanalytiker Daniele (Nanni Moretti) warnt Marco eines Tages, dass sein Leben in Gefahr sei. Auch die gemeinsame Tochter entwickelt eine Verhaltensauffälligkeit und ein Psychologe rät Marco, sich dem Kind viel mehr zu widmen. Adele wird nicht das einzige Kind bleiben, das er liebevoll aufzieht. Denn das Schicksal schlägt erneut zu.
Die Kunst, im Leben zu bestehen
Die Freiheit, das eigene Leben zu gestalten, war vermutlich noch nie so groß wie in der jetzigen Zeit. Soziale Schranken fallen und in einer Kultur der Vielfalt und Toleranz soll jeder und jede nach eigener Fasson glücklich werden. Aber vielleicht sind die Menschen trotz aller Wahlmöglichkeiten weniger frei in ihren Entscheidungen, als sie glauben. Viele Dramen erzählen davon, wie sich traumatische Ereignisse und familiäres Unglück auf die nächste Generation auswirken, so auch gerade erst Matthias Glasners Sterben. Aus Italien kommt nun der mit seinen 126 Minuten deutlich kürzer geratene Spielfilm der Regisseurin Francesca Archibugi, der aber dennoch einen epischen Bogen von den 1970er Jahren bis zur Gegenwart spannt. Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Sandro Veronesi erzählt davon, ob und wie es der Hauptfigur Marco Carrera gelingt, ein Leben voller Schicksalsschläge zu meistern.
Vielleicht wollte Marco als Kind nicht wachsen, weil die beiden Erwachsenen im Haus ständig stritten. Auch die psychische Erkrankung seiner älteren Schwester war ihm vermutlich eine Warnung vor dem, was nach dem Stadium kindlicher Träume und Hoffnungen kommt. Marco wird trotzdem wachsen und reifen, ohne recht zu begreifen, wie er zu seinen Überzeugungen gelangte, was er durch sie versäumt und anrichtet. Die Liebe zu Luisa will er bewahren, indem er sie auf das Podest der ewigen Anbetung stellt. Von Luisa wird Marco später einmal hören, dass er alle Energie wie ein Kolibri darauf verwende, auf dem Platz zu bleiben. Offenbar aber hat Marco ein inneres Rezept gefunden, mit dem er sich gegen den Strom der Zerstörung und des Unglücks stemmt, der andere aus seiner Umgebung fortreißt.
Im flotten Wechsel der Zeiten
Die Regisseurin bezeichnet die Romanvorlage als stilistisch experimentierfreudig und ihre Inszenierung erweist sich als ebenfalls ungewöhnlich. In flottem Wechsel kurzer Szenen springt die Handlung zwischen den Zeiten und Schauplätzen hin und her. Dabei ähnelt sie dem von Erinnerungen gespeisten Bewusstseinsstrom. Archibugi sagt dazu: „Vorfälle treten scheinbar plötzlich und gehäuft auf, sind aber stattdessen durch innere, manchmal unbewusste Fäden verbunden.“ Beim Zuschauen fällt auf, wie ratlos die Menschen oft sind, wenn Angehörige psychisch erkranken und dass weder Beziehungen noch Fachleute immer alles richten können. Der nichtlineare Erzählstil hält die Geschichte spannend, ist aber auch anstrengend. Denn es kommen sehr viele Personen vor und einige von ihnen werden je nach ihrem Alter auch noch von verschiedenen Darstellern gespielt.
Der Hauptdarsteller Pierfrancesco Favino, ein bekanntes Gesicht des italienischen Kinos, spielt Marco als sympathischen, gutherzigen Mann. Er ist nicht unfehlbar oder gar weise, aber er wächst mit seinen Aufgaben. Der Film hat nicht die Absicht, die Geheimnisse seiner Seele zu ergründen, sondern sieht ihm einfach zu, wie er mit den Rätseln und Prüfungen umgeht, die ihm das Leben stellt. Die Nebenfiguren werden noch weniger ausgeleuchtet. Weil viel passiert, kommt man den einzelnen Charakteren emotional nicht besonders nahe. Es gibt Szenen und Figuren, die humorvoll und skurril wirken, zum Beispiel wenn der von Nanni Moretti gespielte Psychoanalytiker in Marcos Leben tritt und ihm zu seiner Überraschung Einzelheiten daraus berichtet. Tragik, Zufälle, unzulängliche menschliche Erklärungen lassen die Versuche Marcos und anderer, sich auf der Welt zurechtzufinden, zuweilen absurd anmuten. Dieses bunte filmische Kaleidoskop regt zum Nachdenken und Philosophieren an, denn in den meisten Szenen blitzen Möglichkeiten und Wege auf, die ungenutzt bleiben, sobald Marco eine Entscheidung trifft.
OT: „Il colibrì“
Land: Italien, Frankreich
Jahr: 2022
Regie: Francesca Archibugi
Drehbuch: Francesca Archibugi, Laura Paolucci, Francesco Piccolo
Vorlage: Sandro Veronesi
Musik: Battista Lena
Kamera: Luca Bigazzi
Besetzung: Pierfrancesco Favino, Nanni Moretti, Bérénice Bejo, Kasia Smutniak, Laura Morante, Sergio Albelli, Alessandro Tedeschi, Benedetta Porcaroli, Massimo Ceccherini
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