Murphy (Viggo Mortensen), ein schweigsamer Revolverheld, wird mit einer Kutsche in die Geschichte gefahren. Er sucht seine entführte Tochter Molly (Viilbjørk Malling Agger). Ob er sie in dieser abgelegenen Stadt findet? Jemand schießt in die Luft, halbnackte Frauen waschen sich an einem Brunnen, ein Betrunkener kippt zur Seite wie eine lose Kulisse im heulenden Wüstenwind. Murphy klappt die Salontüren zur Seite, lässt sich an einem Tisch nieder, auf dem zu seiner Verwunderung eine Vogelfeder liegt, und fängt an zu trinken. Ein amerikanischer Ureinwohner weist ihn darauf hin, dass dies nicht sein Platz wäre. Dann setzt sich El Coronel (Chiara Mastroianni) an den Tisch zu Murphy. Sie scheint hier das Sagen zu haben. Weiß Sie vielleicht, wo sich Murphys Tochter befindet?
Aus dem Western nach South Dakota
Regisseur Lisandro Alonso eröffnet Eureka mit einem schwarz-weißen Western im 4:3-Bildformat und – im Folgenden kann es zu Spoilern kommen! – führt uns über die Tristesse eines verschneiten Reservats bis in einen Dschungel, in dem sich ein indigener Stamm von seinen Träumen erzählt. Der argentinische Regisseur entwickelt sein kryptisches Werk mit Einfühlungsvermögen, Tiefe und wiederkehrenden Motiven: Suche, Rache, koloniale Ausbeutung, Verwandlung. Diese Motive haben etwas Verbindendes und strahlen immer wieder durch. Zudem nutzt er eine oft starre Kamera, einen zurückhaltend wirkendenden Erzähler und fast zähe Phasen, in denen die Figuren einfach nur „sind“, mit Emotionen ringen, warten und keine Schnitte, die das Publikum aus der Hypnose reißen, mit der uns Alonso weiterträgt. Wohin geht die Reise eigentlich? Einerseits gibt es einen großen narrativen Bogen, aber es sind auch drei kleinere Bögen, wie die Kurven eines flachen Steins, der über einen Fluss hüpft. Mit der Figur des El Coronel (Márcio Mariante) adressiert Alonso zum Ende hin wieder den Anfang und baut so, auch mit anderen wiederkehrenden Figuren, immer wieder inhaltliche Brücken.
Fast nebenbei malt der Filmemacher über die Genreschablonen hinaus seine anspruchsvolle Geschichte. Die Kamera verlässt den Wilden Westen mit einer die vierte Wand anknacksenden Wendung und führt uns vor Augen, dass die Grenzen der Realität, auf die wir uns zunächst eingelassen haben, nur die Ränder des Fernsehgeräts waren, aus dem wir in ein anderes Drama geschickt werden. Oder es ist noch dieselbe Geschichte? Wir befinden uns im Pine Ridge Reservat in South Dakota. Das Bildformat hat sich verändert, nicht jedoch die Lebenswirklichkeit: Auch hier herrscht Verwahrlosung sowie ein Scheitern der Kommunikation. Die Polizistin, toll gespielt von Alaina Clifford, bahnt sich einen Weg durch die verschneiten Straßen. Wir folgen ihrer Arbeit, bei der sie über Funk kommuniziert, fast wie eine Astronautin, die mit einer Station auf der Erde spricht und es finden sich feine Nuancen des Zwischenmenschlichen; eine ganze Lebensgeschichte, die sich in einem ausgedehnten Schweigen spiegelt. Mal sucht sie jemanden wie Murphy, mal wird sie zu einem Einsatz in einer Spielhalle gerufen, die etwas Gespenstisches an sich hat.
Von South Dakota in den Dschungel
Während die Polizistin ihrer Arbeit nachgeht, folgen wir zwischenzeitlich Sadie, eindrücklich gespielt von Sadie LaPointe, die Basketball unterrichtet und die scheinbar etwas umtreibt. Sie fährt in ein Gefängnis, um sich von jemandem zu verabschieden. Dann besucht sie ihren Großvater. Auch hier gibt es einen ungewöhnlichen Twist. Alonso traut sich etwas, indem er die vertraute Erzählstruktur auflöst. Wie Sadies Großvater sinngemäß sagt: Es gibt nur den Raum, nicht die Zeit. Die Zeit ist eine Erfindung. Dadurch werden auch die längeren Phasen, in denen wenig passiert, zu Bruchstücken einer Pointe. Als ein Marabu fliegt Sadie aus dem Pine Ridge Reservat in den Dschungel und wird zu einer Art stiller Beobachterin einer weiteren Erzählung. Die Einwohner eines Eingeborenenstammes baden im Fluss und erzählen sich von ihren Träumen. Doch dann gerät die Idylle ins Wanken und ein Messer zertrennt das Band des friedlichen Zusammenlebens.
Wieder verändert sich das Format. Alonso nutzt verschiedene Bildformate, die möglicherweise die Unterschiedlichkeit der Realitätsebenen visualisieren. Er fängt in einem Schwarz-Weiß-Film an, führt in die vermeidliche Realität und leitet dann über in einen Mythos. Es wird damit vielleicht auch zu einem Film über Kunst: vom Kunstwerk in die Welt der Menschen, die Welt der Erfahrung und von dort aus zurück in den magischen Realismus der Träume der Betrachter hinein.
Von der Kunst zum Traum
Eureka könnte einigen mit seinen 2 Stunden 27 Minuten zu langatmig vorkommen und man muss mit der Erzählweise etwas warm werden. Besonders die Szenen, in denen wenig passiert, das die Handlung vorantreibt, könnten irritieren bis zu einem Punkt, an dem man sich fragt: Wann geht es weiter? Aber Eureka hat auch viel Spannung und Figuren, die man kennenlernt, ohne dass allzu viel gesprochen wird oder dass man sich in künstlichen Expositionen verliert. Nicht alle Fäden der Geschichte werden zu Ende gewoben. Was passiert mit der Figur? Wie geht es dort weiter? Aber auch das könnte eine Pointe des Regisseurs sein: Er erzählt vom Verlorenen, vom Verloren-sein, von Figuren, die ein Außenseiter-Dasein führen. Dazu passt außerdem, dass das Wort „Marabu“, in den sich Sadie verwandelt, unteranderem „Einsiedler“ bedeutet.
OT: „Eureka“
Jahr: 2023
Land: Argentinien, Frankreich, Portugal
Regie: Lisandro Alonso
Drehbuch: Lisandro Alonso, Fabian Casas, Martín Caamaño
Musik: Santiago Fumagalli
Kamera: Mauro Herce, Timo Salminen
Besetzung: Alaina Clifford, Sadie Lapointe, Viggo Mortensen, Chiara Mastroianni, Adanilo Costa, Rafi Pitts, Marcio Marante
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