„Großmutter, warum hast du so große Zähne?“ Fast jeder kennt die Frage aus dem Märchen „Rotkäppchen“ der Gebrüder Grimm. Ebenso wie die Antwort: „Damit ich dich besser fressen kann“, sprach der böse Wolf und verschlang das kleine, zarte Mädchen. Solche Erzählungen prägen unser Bild vom Vorfahren des Hundes bis heute. Und weil der Wolf in Deutschland mehr als hundert Jahre ausgestorben war, weiß man über ihn kaum mehr, als dass er gefährlich sein soll. Dokumentarfilmer Ralf Bücheler stellt den ebenso weit verbreiteten wie tief sitzenden Ängsten einen vorurteilsfreien, wissensbasierten Film entgegen. 184 Wolfsrudel, 47 Paare und 22 sesshafte Einzeltiere leben derzeit wieder hierzulande (Stand Oktober 2023). Soll man sie abschießen oder als Teil unserer natürlichen Lebenswelt begrüßen? Der Filmemacher hat dazu seine private Meinung, aber seine beobachtende Arbeit lässt alle Seiten zu Wort kommen.
Putzig und verspielt
Neugierig schlurft er aus dem Maisfeld, schnüffelt nach allen Seiten, schaut sich nervös um. Auch die dort aufgestellte Kamera weckt das Interesse des Wolfes. Er geht ganz nah ran, sorgt selbst für die Großaufnahme, in der man einen Moment lang nur ein Augenpaar sieht. Dann wackelt das Bild, aber die Kamera läuft ungestört weiter, als das Tier seine lange Schnauze wieder in eine andere Richtung streckt. Das Aufnahmegerät zeigt nun, wie sich ein zweiter Wolf nähert. Auch er scheint sich im Maisfeld wohl zu fühlen. Gefährlich wirken die beiden nicht, wenn man sie aus dem sicheren Raum des Kinos betrachtet, eher putzig und verspielt. Genau das scheint auch der Sinn dieser Szenen zu sein: Uns bekannt zu machen mit den Tieren, die uns sonst nur in Schreckensmeldungen begegnen. Etwa als blutrünstige Monster, die Dutzende Schafe aus Mordlust reißen. Oder als freche Eindringlinge, die ohne Scheu durch Dorfstraßen laufen.
Wer mehr über die seit 1998 wieder eingewanderten Wölfe wissen will, kann das problemlos tun. In Deutschland kümmern sich Hunderte Wolfsbeauftragte und mehrere wissenschaftliche Institute um jeden einzelnen Wolf, der sich hier niederlässt, von einem Auto überfahren wird oder sich untypisch und auffällig verhält. Regisseur Ralf Bücheler (Elternschule, 2018, zusammen mit Jörg Adolph) hat die meisten von ihnen bei ihrer Arbeit begleitet. Zum Beispiel die Wildtierbiologinnen Gesa Kluth und Ilka Reinhardt, die im Jahr 2002 das Lupus-Institut für Wolfsmonitoring und -forschung gründeten. Oder den Wildtiergenetiker Carsten Nowak von der Senckenberg Forschungsgesellschaft in der Nähe von Frankfurt am Main, wo jährlich 4000 Proben von lebenden oder toten Wölfen untersucht werden – Haare, Speichel, Kot und Gewebe. Oder die Wildtierpathologin Claudia Szentiks vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin, zu der jeder tote Wolf zwecks Sezierung verfrachtet wird. Zusammen mit den Aussagen anderer Experten sowie einer Anhörung im Deutschen Bundestag ergibt sich ein komplexes Bild von den neuen Lebensräumen der Wölfe und ihrem Verhalten. Dazu steuert Tierfilmer Sebastian Koerner in Kooperation mit dem Regisseur höchst spannende und spektakuläre Bilder bei.
Vermehrung bleibt begrenzt
Das Erstaunlichste: Was man bisher alles nicht wusste. Etwa, wie sich die Rudel bilden. In jedem gibt es nur zwei erwachsene Tiere, den Rüden und die Fähe. Sie leben zusammen mit ihren bis zu neun oder zehn Welpen. Aber nur bis zu deren Geschlechtsreife. Dann verlassen die Jungwölfe das Rudel, um eine Partnerin und ein neues Territorium zu finden. In das Gebiet anderer Rudel dürfen sie nicht, daher streifen die neugierigen „Jährlinge“ durch die Gegend, werden häufig überfahren und begegnen auf ihren Wanderungen manchmal auch Menschen. Trotzdem vermehrt sich die Wolfspopulation nur dort, wo es genügend Beutetiere gibt. Manche deutsche Regionen sind für eine Ansiedlung kaum geeignet, bislang werden nur 20 Prozent des Landes dauerhaft von Wölfen bevölkert. Aber auch dort trifft man sie selten, weil ihre Reviere so groß sind, rund 200 bis 250 Quadratkilometer. Und: Sie ernähren sich nicht in erster Linie von Nutztieren wie Schafen oder Rindern, sondern wittern, welche Waldtiere krank sind. Gerade geschwächte Exemplare sind deshalb gefährdet, wie eine besonders spannende Sequenz mit einem äußerlich kapitalen Hirsch verdeutlicht.
Selbstverständlich kann und will Im Land der Wölfe die Kehrseiten der neuen Artenvielfalt nicht wegdiskutieren. Ihren Auftritt haben Demonstranten mit Spruchbändern wie „Lieber Wolfssterben als Almensterben“ sowie Bauernfunktionäre und skeptische Politiker. Da ihnen der Filmemacher keine Fragen stellt, sondern sich beobachtend unter die Pro- und Contra-Milieus mischt, werden sämtliche Meinungen und Ängste ernst genommen. Was Ralf Bücheler selber denkt, erfährt man nicht aus seinem Film, sondern nur aus dem Regie-Kommentar im Presseheft: „Trotz der Probleme, die die Wölfe zweifellos verursachen, freue ich mich über ihre Rückkehr.“ Das kann man zwar auch zwischen den Bildern spüren, aber dank ihrer formalen Offenheit macht die Dokumentation Lust auf ein angeregtes und kontroverses Gespräch.
OT: „Im Land der Wölfe“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Ralf Bücheler
Drehbuch: Ralf Bücheler
Musik: Cico Beck
Kamera: Daniel Schönauer, Sebastian Koerner
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