Im Leben des Dirigenten Tom (Lars Eidinger) geht gerade alles drunter und drüber. Daheim kommen die kranke Mutter Lissy (Corinna Harfouch) und der zunehmend demente Vater Gerd (Hans-Uwe Bauer) nicht mehr allein zurecht. Er wird sie mal besuchen müssen, obwohl er in Berlin gerade ein Baby bekommen hat. Dieses gehört seiner Ex-Freundin Liv (Anna Bederke) und der biologische Vater ist ein anderer, aber die Ex-Freundin hat ihn gebeten, das Kind mit zu betreuen. Außerdem steht die Uraufführung der Komposition „Sterben“ seines besten Freundes Bernard (Robert Gwisdek) bevor und Tom soll das Konzert dirigieren. Bernard aber ist ein depressives Nervenbündel und wird von schweren Selbstzweifeln geplagt. Nach dem Tod des Vaters erfährt Tom von seiner Mutter den wahren Grund für ihre gestörte Beziehung. Tochter Ellen (Lilith Stangenberg) bleibt der Beerdigung fern. Die Zahnarzthelferin trinkt sich in Hamburg täglich in den Vollrausch und hat eine Affäre mit einem verheirateten Zahnarzt (Ronald Zehrfeld). Dieser überredet sie, nichts Böses ahnend, zu Toms Konzert zu gehen…
Im Schleudergang des Lebens
Wenn die Eltern alt und hilfsbedürftig werden, fühlen sich die erwachsenen Kinder mit der Situation oft überfordert. Ist der eigene Alltag, fern von daheim, nicht schon stressig genug? Verbirgt sich in der eingerosteten Beziehung zu Mutter und Vater gar noch emotionaler Sprengstoff? Die Eltern schließlich an den Tod zu verlieren, veranlasst viele Menschen, die eigene Position im Leben genauer anzuschauen. Was hat man erreicht, verloren, wo steckt man fest, wie soll es weitergehen? Der Regisseur und Drehbuchautor Matthias Glasner (Landgericht – Geschichte einer Familie) hat aus solchen – und noch weiteren – Themen ein autobiografisch inspiriertes Großdrama gestrickt. Wenn am Schluss die Widmung „Für meine Familie, die Lebenden und die Toten“ eingeblendet wird, mutet das schmerzlich schonungslos an. Denn in den 180 Filmminuten kamen zuhauf seelische Abgründe und Problemlagen zutage. Auf der Berlinale 2024 erhielt Sterben den Silbernen Bären für das beste Drehbuch.
Die in Kapitel unterteilte Geschichte fängt schon hoch dramatisch an, im Haus von Lissy und Gerd. Es geht nicht mehr, aber wie sich Lissy abmüht, mit Gerd und trotz seiner Fluchttendenzen aus der Notsituation herauszufinden, wird großartig geschildert, mit einem Hang zur Tollkühnheit, zum Aberwitz. Glasner überführt den schonungslosen Blick in die große, theatralische und manchmal ironische Geste. Das wird nach und nach deutlicher, wenn die Geschichte weiterwandert, zu Sohn Tom und dann zu Tochter Ellen. Lars Eidinger und Lilith Stangenberg sind sicherlich die ideale Besetzung in einem Film, der Wert auf ausdrucksstarkes Spiel legt. Wobei die stets faszinierende Lilith Stangenberg für die Rolle einer torkelnden Alkoholikerin und Chaosstifterin klar überqualifiziert ist. Was fehlt der Zahnarzthelferin Ellen denn überhaupt, was ihrem Künstlerbruder? Die Spurensuche weist ins Elternhaus, es stellt sich heraus, dass es für Tom und Ellen mehr zu bewältigen gibt als nur eine Kindheit in eintönig geordneten Verhältnissen.
Den bürgerlichen Kokon sprengen
Nach der Beerdigung des Vaters kommt es zwischen Mutter Lissy und Tom zu einer Aussprache an der häuslichen Kaffeetafel. Corinna Harfouch und Lars Eidinger liefern dem Film hier die beste Szene, die vor Spannung knistert. Plötzlich liegt ein Abgrund frei, den es nicht hätte geben dürfen und der auch nie überwunden wurde. Von ferne lassen Dramen wie Scherbentanz aus dem Jahr 2002 oder Hierankl von 2003 grüßen, die das Unheimliche hinter bürgerlichen Familienfassaden wuchtig und konsequent offenlegten. Bei Glasner aber schleicht sich der Eindruck ein, dass Sterben im bürgerlich-bewährten Milieu nach schauerlichen Schätzen gräbt, es demonstrativ niedertrampelt und ihm doch verhaftet bleibt. Ein Beispiel ist der Umgang mit der Frage, wie viel Schaden eine Mutter anrichtet, wenn sie in Sachen Liebe schwächelt, und ob sie damit Schuld auf sich lädt.
Im Zentrum des Films steht Tom, der, allen inneren Beschädigungen zum Trotz, im allgemeinen konstruktiv unterwegs ist. Der Mann hat aber so viel um die Ohren, mit Partnerinnen, die Kinder kriegen oder nicht, mit dem lebensmüden Komponistenfreund. Aktuelle Themen wie die Lust der Männer, Väter zu sein oder ob man jemanden, der aus dem Leben scheiden will, dabei begleiten darf, kommen vor. Oft wirkt das Ganze in seiner dramatischen Zusammenballung wichtigtuerisch. Manchmal lässt sich eine satirische Färbung wahrnehmen, oder auch, je nach Interpretation, ein Hauch unfreiwilliger Komik. Die Charaktere werden in banalen, hässlichen, guten, schrillen Momenten beleuchtet und dann wieder entlassen. Man spürt jedoch mit einiger Neugier, dass sie unerforschtes Potenzial besitzen.
OT: „Sterben“
Land: Deutschland
Jahr: 2024
Regie: Matthias Glasner
Drehbuch: Matthias Glasner
Musik: Lorenz Dangel
Kamera: Jakub Bejnarowicz
Besetzung: Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg, Hans-Uwe Bauer, Robert Gwisdek, Ronald Zehrfeld, Anna Bederke, Saskia Rosendahl, Saerom Park
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