Als Julian (Bryce Gheisar) an der Schule Ärger hat, beschließt seine Großmutter Sara (Helen Mirren), eine angesehene Künstlerin, ihm eine Geschichte aus ihrer Kindheit zu erzählen, die sie in einem kleinen französischen Dorf verbrachte. So hatte sie als Mädchen (jetzt: Ariella Glaser) wegen ihrer jüdischen Herkunft vor den deutschen Besatzern fliehen müssen. Während ihre Eltern damals spurlos verschwanden und ein Großteil ihrer Klasse in Gefangenschaft gerieten, fand sie Unterschlupf bei ihrem Mitschüler Julien (Orlando Schwerdt). Der ist aufgrund seiner Polio-Erkrankung selbst ein Außenseiter, wurde gerade auch von Saras Schwarm Vincent (Jem Matthews) gemobbt. Bislang hatte sie dem Jungen nur wenig Beachtung geschenkt. Dennoch bietet er ihr an, sich in der Scheune auf dem Hof seiner Eltern Vivienne (Gillian Anderson) und Jean-Paul (Jo Stone-Fewings) zu verstecken. Dort kann sie erst einmal bleiben. Doch die Gefahr ist nie weit weg …
Ein Wunder der Vergangenheit
Nach dem enormen Erfolg des 2012 veröffentlichten Romans Wunder und der gleichnamigen Verfilmung von 2017 – bei einem Budget on 20 Millionen US-Dollar spielte er mehr als 300 Millionen ein –, war es klar, dass man irgendwie von diesem Ergebnis profitieren wollte. Tatsächlich wartete Autorin R. J. Palacio nicht lange und schob recht bald nach dem Buch noch einige Spin-offs hinterher. Zu diesen zählt auch die Graphic Novel White Bird, die 2019 auf den Markt kam. Die wiederum liefert die Grundlage für den Film hier. Wobei man hier keine Fortsetzung erwarten sollte. Wenn überhaupt, steht das Drama ein Prequel dar. Und selbst dahinter kann man ein Fragezeichen setzen, denn im Mittelpunkt steht die junge Ausgabe der zuvor unerwähnten Großmutter einer Nebenfigur. Das ist schon etwas konstruiert.
Theoretisch hätte man diese Rahmenhandlung sogar ganz weglassen können. Zwar wird in dieser Julian gezeigt, die besagte Nebenfigur aus Wunder. Sie wird auch erneut von Bryce Gheisar gespielt, dem damaligen Darsteller. Aber die Szenen sind kurz und ohne viel Relevanz für die eigentliche Geschichte. Diese ist letztendlich eine recht typische, wie man sie im Themenbereich Zweiter Weltkrieg bzw. Holocaust häufiger findet. Erneut folgen wir einer jüdischen Figur, die auf der Flucht vor den Nationalsozialisten bzw. der Kollaborateure ist. Von denen gibt es einige. Vincent wird in White Bird quasi zum Antagonisten erklärt, stellvertretend für all die menschenverachtenden Fanatiker. Er ist das Gesicht zur allgegenwärtigen Bedrohung, die außerhalb des Hofs lauert.
Plädoyer und Realitätsflucht
Die Scheune wird auf diese Weise zu einem Refugium, das zwar zwischendurch Berührungspunkte mit der Realität hat, aber vor allem ein Ort der Realitätsflucht ist – im konkreten wie im übertragenen Sinn. Immer mal wieder baut Regisseur Marc Forster (Ein Mann namens Otto, Christopher Robin) fantastische Momente. An einer Stelle gibt sich das Historiendrama einem magischen Realismus hin. Gerade aber auch die Szenen, wenn die zwei Kinder sich ein eigenes kleines Kino errichten und bei den Bildern aus der Ferne die Grenzen zwischen Realität und Fantasie aufheben, sind schön geworden. White Bird beschwört da die Kraft des Films und der Vorstellungskraft, gerade auch als Gegenpol zu einer oppressiven Welt.
Vor allem aber will die Comic-Adaption ein Plädoyer für Toleranz und Gemeinschaftlichkeit sein. Wenn der Jugendliche Julian über seine Großmutter lernt, wie wichtig ein respektvoller Umgang mit anderen Menschen ist, dann soll natürlich auch das Publikum diese Nachricht mitnehmen und verinnerlichen. Das Ergebnis ist etwas zwiespältig. Die Aussage ist ohne Zweifel wichtig und sehr viel aktueller, als es einem lieb sein kann. Allerdings wird dem Publikum nicht zugetraut, die entsprechenden Schlüsse selbst zu ziehen. Ambivalenzen? Gibt es keine, hier wird alles bis zum letzten Satzzeichen ausformuliert. Da merkt man dann schon, dass sich Palacio eher an ein junges Publikum richtet. Wen das nicht stört, findet mit White Bird ein prominent besetztes Holocaustdrama mit einem stimmungsvollen Setting, welches vielleicht nicht für Einnahmerekorde gut sein wird, aber sicherlich vielen zu Herzen geht.
OT: „White Bird“
Land: USA
Jahr: 2024
Regie: Marc Forster
Drehbuch: Mark Bomback
Vorlage: R. J. Palacio
Musik: Thomas Newman
Kamera: Matthias Koenigswieser
Besetzung: Ariella Glaser, Orlando Schwerdt, Bryce Gheisar, Gillian Anderson, Helen Mirren, Jo Stone-Fewings, Patsy Ferran, Jem Matthews
Ihr wollt mehr zu dem Film erfahren? Wir hatten die Gelegenheit, uns mit Regisseur Marc Forster zu unterhalten. Im Interview zu White Bird sprechen wir über die Arbeit an der Adaption, prägende Erfahrungen und inspirierende Filme.
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