Von allen Genres ist das Horrorgenre eines der interessantesten. Nicht nur die Vielseitigkeit zeichnet den Horrorfilm aus, sondern vor allem seine Darstellung kultureller und gesellschaftlicher Ängste. In seinem Sachbuch über das Genre Danse Macabre nimmt Autor Stephen King zum einen Bezug auf Horrorliteratur und zum anderen auf Horror als Indikator für soziale Ängste. Seine These erklärt er mit Blick auf den unterschiedlichen kommerziellen Erfolg von Werken wie George A. Romeros Dawn of the Dead und William Friedkins Der Exorzist, die sehr verschieden aufgenommen wurden in Europa im Vergleich zu den USA.
Kings Konzept kann man natürlich auf andere kulturelle Zusammenhänge anwenden, wie beispielsweise die Horrorfilme Asiens, die erzählerisch, thematisch und naturgemäß auch ästhetisch sehr viel anders sind, auch wenn der ein oder andere Bezug zu Klassikern des Genres unübersehbar ist. Dabei war der japanische Horrorfilm für viele Kinozuschauer lange eher ein Nischeninteresse und lediglich Cineasten kannten Werke wie Shindo Kanetos Onibaba – Die Töterinnen oder Kuroneko. Dies sollte sich jedoch gegen Ende der 90er schlagartig ändern, als auf einmal mit Filmen wie Ring, Ju-on und Pulse gleich eine ganze Welle von Horrorproduktionen aus Japan ihren Weg in die westlichen Kinos fanden und den Begriff des J-Horror prägten.
Auch wenn die Blütezeit des J-Horror lange vorbei ist, lässt sich die Bedeutung dieser kurzen Zeit für den japanischen Film nicht kleinreden. Sarah Appleton und Jasper Sharp, beide nicht nur Filmschaffende, sondern ebenso Filmwissenschaftler gehen in ihrer Dokumentation The J-Horror Virus, die im Rahmen der Nippon Connection 2024 zu sehen sein wird, dem Phänomen des J-Horror auf den Grund. Dabei gehen sie den Bezügen zu japanischer Folklore und Literatur sowie wirtschaftlichen und technologischen Aspekten wie dem Popularität von VHS oder der Anfangsphase des Internets nach und wie diese J-Horror beeinflusst haben. Darüber hinaus sprechen sie mit wichtigen Regisseuren dieser Zeit, unter anderem mit Kiyoshi Kurosawa (Pulse, Creepy), Takashi Shimizu (Ju-on) und Norio Tsuruta (Ring 0). Durch die verschiedenen Perspektiven und Einblicke wird The J-Horror Virus zu einer informativen und unterhaltsamen Dokumentation, die für den interessierten Zuschauer nicht nur ein paar neue Filmempfehlungen auf Lager hat, denn darüber hinaus wird J-Horror als Ausdruck von Themen wie der Angst vor Technologie, Isolation und Einsamkeit betrachtet.
Geister und wie wir sie sehen
In einer von vielen sehr erhellenden Anekdoten beschreibt Masayuki Ochiai (Infection) seine Erfahrung am Set des Remakes des thailändischen Horrorfilms Shutter. Das größtenteils US-amerikanische Team wollte sich nicht mit seiner Inszenierung der geisterhaften Erscheinung abfinden und stattdessen eine viel aggressivere Bedrohung. Aus Ochiais Sicht (und der vieler seiner Kollegen) ergibt sich der Effekt dieser Erscheinungen aber nicht, weil sie ihre Opfer angreifen, sondern weil sie einfach nur da sind, manchmal nur für den Bruchteil einer Sekunde, um zu verdeutlichen, wie die Realität eines Menschen sich langsam aber sicher verschiebt. Die Dämonen aus Ring oder Ju-On greifen nicht an, sie terrorisieren ihre Opfer durch ihr Erscheinen in ihrer Wirklichkeit, bis sie diese schließlich gänzlich übernommen haben. Es ist einer von vielen Aspekten, den Appleton und Sharp in The J-Horror Virus beleuchten und der verdeutlicht, wo der Unterschied zu beispielsweise US-amerikanischen Horrorfilmen besteht. Zugleich erscheinen die Remakes der genannten Filme in einem anderen Licht, vor allem, wenn sie beiderlei Herangehensweisen vereinen.
Abgesehen von diesen ästhetischen Entscheidungen, die zurückgehen auf japanische Legenden und Mythen, werden die Filme als Reflektion kultureller Ängste verstanden, wie sie King definiert. Vor allem Kiyoshi Kurosawa, aber auch Hideo Nakata spielen auf die Skepsis hinsichtlich der neuen Technologien, vor allem das Internet, an. Die Geister sind nicht mehr länger Produkte eines Fluches oder einer schlimmen Tat wie in Ju-On, denn wir haben sie selbst geschaffen durch die Technik. Zugleich zeigen sie uns die Einsamkeit der Figuren, die einsam in ihrem Kämmerlein mit einem Modem versuchen, Kontakt zu jemandem aufzunehmen und dabei etwas zutage fördern, was in den dunklen Ecken dieser neuen Welt schlummert.
OT: „The J-Horror Virus“
Land: UK, Japan
Jahr: 2023
Regie: Sarah Appleton, Jasper Sharp
Kamera: Thomas Beswick
Sitges 2023
Nippon Connection 2024
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