Der Vorwurf ist ungeheuerlich: Der Chauffeur Henri Fortin (Jean-Paul Belmondo) soll den Grafen von Villeneuve getötet haben! Als er ins Gefängnis kommt, müssen seine Frau Catherine (Clémentine Célarié) und ihr Sohn Leopold irgendwie versuchen, über die Runden zu kommen – was mehr schlecht als recht funktioniert. Henri, der diese fälschliche Verurteilung nicht akzeptieren will, versucht alles, um aus dieser Lage herauszukommen und zurück zu seiner Familie zu können. Doch der Weg in die Freiheit ist gefährlich. Jahre später hat Sohn Leopold (ebenfalls Jean-Paul Belmondo), der inzwischen den Namen seines Vaters trägt, Karriere als Boxer gemacht und arbeitet nun als Möbelpacker. Sein neuester Auftrag ist es, einer jüdischen Familie 1940 die Flucht aus dem besetzten Frankreich zu ermöglichen …
Romanklassiker neu gedacht
Auch wenn Victor Hugo als einer der großen französischen Autoren gilt und eine Reihe von Werken hinterlassen hat, meistens wird er auf einen von zwei Titeln reduziert. Da war zum einen Der Glöckner von Notre-Dame von 1831, das unter anderem als Vorlage für das bekannte Disney-Musical diente. Aber auch das 1862 veröffentlichte Die Elenden wurde vielfach fürs Kino und das Fernsehen adaptiert, beispielsweise das mit drei Oscars ausgezeichnete Musical, welches unter dem französischen Originaltitel Les Misérables erschienen ist. Weniger bekannt ist die Verfilmung von 1995, auch wenn die ebenfalls preisgekrönt ist und mit einigen größeren Namen protzen kann.
Zu diesen zählt der Regisseur Claude Lelouch. Der wurde beispielsweise durch das Liebesdrama Ein Mann und eine Frau unsterblich. Er drehte aber auch mehrere Krimis, darunter etwa Ein glückliches Jahr. Beide Themen spielen in Die Elenden eine große Rolle. So erfahren wir anfangs von einem Ehepaar, das durch eine fälschliche Verurteilung auseinandergerissen wird. Es geht um Mord, Diebstahl und Gewalt, wenn die Geschichte später während der Zeit der deutschen Besatzung spielt. An der Stelle dürften einige hellhörig werden. Was genau hat der berühmte Roman von Hugo mit dem Nationalsozialismus zu tun? Schließlich wurde er viele Jahrzehnte zuvor geschrieben. Antwort: gar nichts. Und zugleich doch sehr viel.
Vielschichtige Zeitreise
Letztendlich hat Lelouch auch keine wirkliche Adaption gedreht, sondern ein Drama, das von dem Roman inspiriert wurde und diesen immer wieder zitiert. So gibt es Handlungsstränge, die der Originalgeschichte nachempfunden sind. Es gibt aber auch den Roman selbst: Henri sieht als Kind eine Verfilmung des Buchs. Später wird er auch den Roman selbst kennenlernen, mit dem er sich identifiziert. Auf diese Weise springt Die Elenden immer wieder hin und her, ist mal Adaption, mal Film im Film, mal nur inspiriert, wenn die einzelnen Stränge ineinander übergehen und nicht ganz voneinander zu trennen sind. Das liegt auch an dem wiederkehrenden Ensemble. So spielt Jean-Paul Belmondo den Vater am Anfang, später den erwachsenen Sohn, der nach dem Vater benannt wurde. Er spielt aber auch Jean Valjean, die Hauptfigur in Les Misérables.
Diese verschachtelte ineinander übergreifende Erzählweise ist schon eine Herausforderung, erinnert ein wenig an The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Dort war es der Roman Mrs. Dalloway von Virginia Woolf, der in drei Strängen verhandelt wurde. Man braucht zudem einiges an Geduld: Fast drei Stunden lang ist Die Elenden. Während aber viele heutige Titel diese Exzesse kaum rechtfertigen können, hat Lelouch wirklich viel zu erzählen. Wer die Zeit und Geduld aufbringt und bereit ist, ein bisschen mehr zu investieren, kann hier einiges mit sich nehmen. Aber diese höheren Anforderungen waren ja auch schon bei der Vorlage so. Vergleichbar komplex wird es hier natürlich nicht. War das Original auch maßgeblich ein Zeitporträt das viel über die damalige Gesellschaft zu sagen hatte, da ist der Film deutlich kleiner im Umfang. Für sich genommen lohnt aber die vielschichtige Zeitreise.
OT: „Les Misérables“
Land: Frankreich
Jahr: 1995
Regie: Claude Lelouch
Drehbuch: Claude Lelouch
Vorlage: Victor Hugo
Musik: Francis Lai, Philippe Servain, Didier Barbelivien, Erik Berchot, Michel Legrand
Kamera: Philippe Pavans de Ceccatty
Besetzung: Jean-Paul Belmondo, Michel Boujenah, Alessandra Martines, Annie Girardot, Philippe Léotard, Clémentine Célarié, Rufus, Philippe Khorsand, Salomé Lelouch
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
BAFTA | 1996 | Bester fremdsprachiger Film | nominiert | |
César | 1996 | Beste Nebendarstellerin | Annie Girardot | nominiert |
Golden Globes | 1996 | Bester fremdsprachiger Film | Sieg |
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