Eigentlich hätte es für Evie (Flora Hylton) ein schöner Urlaub mit ihrer Mutter Yvonne (Josie Walker) sein sollen, als sie gemeinsam an die Küste fahren. Dummerweise ist aber auch Tony (Steffan Rhodri) da. Dieser bändelt mit Yvonne an, was Evie tief verletzt, hatte sie doch bis zuletzt gehofft, dass ihre Eltern wieder zusammenkommen. Stattdessen muss sie sich ihre Mutter jetzt mit einem anderen Mann teilen. Während die 11-Jährige notgedrungen allein durch die Gegend streift, machte sie die Bekanntschaft des einheimischen Jungen Adam (Joel Sefton-Iongi). Auch er vermisst seinen Vater, der vor Jahren gegangen ist. Die beiden verstehen sich gut, verbringen im Anschluss viel Zeit miteinander – und erkunden gemeinsam eine Mine, in der eigenartige Dinge geschehen …
Tief vergrabene Gefühle
Filme, die in der idyllischen Küstenlandschaft Cornwall im Süden Englands spielen? Da dürften die meisten an Rosamunde Pilcher denken, mehr als 170 Teile sind es inzwischen, die im Rahmen des ZDF Herzkinos ausgestrahlt wurden. Dabei lassen sich deutlich spannendere Geschichten in der Gegend erzählen, wie die britische Independent-Produktion Edge of Summer zeigt. Denn dort werden die romantischen Landschaftsaufnahmen nicht genutzt, um das Publikum schwärmen zu lassen. Vielmehr werden sie zum Hintergrund eines Dramas, das sich mit deutlich komplizierteren Gefühlen auseinandersetzt. Gefühlen auch, die tief vergraben sind, teils bewusst, teils unwissentlich, und erst einmal in einem schmerzlichen Prozess an die Oberfläche befördert werden müssen.
Sinnbildlich dafür stehen die Minen, die wir an der Seite der beiden jungen Hauptfiguren erkunden. Dass dort etwas nicht stimmt, wird früh klar, als sie komische Geräusche hören. Und war da nicht sogar eine Stimme? Edge of Summer bringt auf diese Weise eine leichte Mystery-Stimmung mit sich. Kurz meint man sogar, dass das hier in eine Fantasyrichtung gehen könnte, vergleichbar etwa zu dem märchenhaften Sicilian Ghost Story vor einigen Jahren. Regisseurin und Drehbuchautorin Lucy Cohen wird an der Stelle aber nie konkret, verrät nicht, was es mit dem Flüstern und den Schatten auf sich hat. Da geht es mehr um das Motiv an sich, dass in der Dunkelheit nach Antworten gesucht wird und die Vergangenheit selbst dann noch Auswirkungen hat, wenn sie verschüttet ist.
Rau und rätselhaft
Nach und nach kommen so Geheimnisse ans Licht, werden Gefühle angesprochen, die zuvor nicht genügend Beachtung gefunden haben. Das betrifft dann die beiden Kinder, die auf dem Weg ins Erwachsenenalter sind. Denn bei beiden Familien liegt einiges im Argen. Die dabei angesprochenen Probleme sind von einer sehr irdischen Natur, die viel Identifikationsfläche bieten. Da geht es um das Ende einer Ehe, aber auch gestörte Kommunikation zwischen den Generationen. So sieht Yvonne in ihrer Tochter immer noch ein kleines Kind, ohne bemerkt zu haben, wie es wirklich in ihr aussieht. Edge of Summer beschreibt auf diese Weise einen mehrfachen Wandel sowohl innerhalb der Figuren wie auch zwischen den einzelnen Figuren, da sie alle auf der Suche sind nach einer eigenen Position in dieser Welt.
Das bringt einige sehr emotionale Szenen mit sich, ohne dabei aber auf die Manipulationen Pilchers zurückgreifen zu müssen. Edge of Summer hat dies gar nicht nötig, verlässt sich lieber auf die raue Direktheit. Und auf ein gutes Ensemble: Sowohl die erfahrenen Darstellenden wie auch die Newcomer erledigen eine überzeugende Arbeit und lassen uns daran teilhaben, wie chaotisch, schrecklich, aber auch heilsam zwischenmenschliche Begegnungen sein können. Cohen, die in dem Dokumentarfilm In unserer eigenen Welt von einer trauernden Familie erzählte, demonstriert in ihrem Spielfilmdebüt, dass sie sich auf schwierige, schmerzhafte Gefühle versteht. Am Ende ihres Dramas ist man nicht nur gespannt, wie es mit den Figuren weitergeht, die an einem Wendepunkt ihres Lebens stehen, sondern auch mit der jungen Filmemacherin selbst.
OT: „Edge of Summer“
Land: UK
Jahr: 2024
Regie: Lucy Cohen
Drehbuch: Lucy Cohen
Musik: Hutch Demouilpied
Kamera: Rachel Clark
Besetzung: Flora Hylton, Joel Sefton-Iongi, Josie Walker, Nichola Burley
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