Individualität? Das gehört in Schirkoa der Vergangenheit an. So sind die Menschen dazu gezwungen, Papiertüten auf dem Kopf zu tragen. Statt Namen tragen sie alle Nummern, die sie identifizieren sollen. So auch bei 197A, der als Beamter Karriere macht und bei der Politik hoch hinaus will. Dass das Leben anders sein könnte, kann er sich nicht vorstellen. Für ihn war das alles immer so, wird es auch bleiben. Und doch soll es Anomalien geben, seltsame Wesen außerhalb der Stadt, die für Chaos sorgen und die Gesellschaft bedrohen. Gibt es sie wirklich oder sind sie nur ein Trick der Regierung, um die eigene Bevölkerung kleinzuhalten? 197A stellt dabei fest, dass an der Geschichte mehr dran ist, als er ursprünglich dachte, und seine Welt völlig auf den Kopf gestellt wird …
Eine groteske Dystopie
Ein Vorteil von Animationsfilmen: Sie erlauben es einem, künftige oder auch völlig andersartige Welten zu entwerfen, bei denen nur die eigene Kreativität die Grenze darstellt. In Mars Express etwa lernten wir kürzlich eine Zukunft kennen, in der die Menschen den Mars kolonialisiert haben und Roboter ein fester Bestandteil des Alltags geworden sind. My Oni Girl wiederum hob die Grenze zwischen unserer Welt und der von Teufelswesen auf. Man ist in dem Bereich also schon einiges gewohnt. Eine so abgefahrene Welt wie in Schirkoa: In Lies We Trust erlebt man jedoch nur selten, wenn sowohl beim Setting wie auch dem Szenario ganz eigene Wege begangen werden. Das heißt aber nicht, dass die Geschichte losgelöst ist von unseren Erfahrungen. Wie viele dystopische Werke, greift auch dieses bereits Bestehendes auf.
So erzählt der indische Regisseur und Drehbuchautor Ishan Shukla von einer Gesellschaft, in der die Menschen starken Normen unterworfen werden. Alles, was eine Form von Individualität darstellt, wird versteckt, sei es hinter der Tüte oder einer anonymen Nummer, die keine Identifikation zulässt. Natürlich, totalitäre Systeme hat es in Filmen oder der Literatur schon immer gegeben. Heute gibt es auch in vielen Ländern eine Tendenz, solche Gleichmachungen zu fördern, als Reaktion auf eine zunehmend diverse und unübersichtliche Welt, was viele überfordert. Schirkoa: In Lies We Trust tut dies jedoch auf eine derart groteske Weise, dass man zumindest anfangs lachen möchte. Wenn an einer Stelle der Protagonist einer Selbstmörderin vorwirft, es wäre verboten sich in der Öffentlichkeit ohne aufgezogene Tüte zu töten, veranschaulicht das, wie das System verinnerlicht wurde, ohne darüber nachzudenken.
Eine Reise als faszinierende Seherfahrung
Man hätte sicherlich nur über solche Absurditäten einen Film drehen können. Doch Shukla, der zuvor auch schon einen Kurzfilm zu diesem Szenario gemacht hat, setzt dieser technokratischen Welt die chaotische der Anomalien entgegen, die keinen Regeln zu folgen scheinen – auch keine anatomischen. Dass Letztere vorzuziehen ist, überrascht nicht. Es geht in Schirkoa: In Lies We Trust dabei aber nicht allein darum, die Gesellschaft zu kritisieren. Vielmehr wird die Begegnung mit der jenseitigen Welt für 197A zum Anlass, die Sinnfrage zu stellen. Eine Frage, die aber gar nicht unbedingt beantwortet wird und werden soll. Das Abenteuer geht eher mit Erfahrungen einher, weniger mit Erkenntnissen.
Diese Erfahrungen haben es dafür in sich. Der Animationsfilm, der beim International Film Festival Rotterdam 2024 Premiere hatte, kombiniert verschiedenste Techniken zu einem schillernden Werk, das nur wenig mit übrigen Werken gemeinsam hat. Das hat dann sicherlich nicht die technische Brillanz, mit denen die Großproduktionen aus den USA protzen können. Aber es ist doch ein sehr eigener Anblick, immer wieder faszinierend in seiner Fremdartigkeit, wenn Realistisches auf sehr Stilisiertes trifft. Schirkoa: In Lies We Trust nimmt uns mit auf eine Reise, bei der einem einiges bekannt vorkommt, von der man im weiteren Verlauf dennoch oft etwas überwältigt und verwirrt sein darf. Ein Trip, bei dem am Ende das Gefühl steht, weniger sicher zu sein als vorher.
OT: „Schirkoa: In Lies We Trust“
Land: Indien, Frankreich, Deutschland
Jahr: 2024
Regie: Ishan Shukla
Drehbuch: Ishan Shukla
Musik: Sneha Khanwalkar
Ihr wollt mehr über den Film erfahren? Wir hatten die Gelegenheit, uns mit Regisseur Ishan Shukla zu treffen. Im Interview zu Schirkoa: In Lies We Trust sprechen wir über die Arbeit an dem Animationswerk, das Konzept Freiheit und Einflüsse.
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