Die Überraschung war sicherlich groß, als 2023 der Goldene Bär auf der Berlinale an Auf der Adamant ging. Nicht die bekannten und etablierten Filmschaffenden wie Christian Petzold, Christoph Hochhäusler oder Emily Atef nahmen den wichtigsten Preis des Hauptwettbewerbs an sich, sondern ein Dokumentarfilm, den wohl nur die wenigsten als Favoriten auf dem Plan hatten. Anstatt eines der Ensemblewerke auszuzeichnen, das mit internationalen Stars lockte, standen hier Menschen mit einer psychischen Erkrankung im Mittelpunkt, die sich auf dem gleichnamigen Schiff, Teil einer Tagesklinik, einfanden, um dort Heilung oder zumindest Besserung zu erfahren. Ein Jahr später meldete sich Regisseur Nicolas Philibert mit Averroès & Rosa Parks zurück, der zweite Film einer Art Trilogie, ebenfalls auf der Berlinale.
Im Gespräch mit psychisch kranken Menschen
Das bedeutet, dass es auch im Mittelstück um psychisch erkrankte Menschen geht, die im Rahmen eines Dokumentarfilms zu Wort kommen. Erneut ist auch der Ort titelgebend. Statt des oben genannten Schiffs nimmt uns Philibert mit in zwei Abteilungen der Klinik für Psychiatrie Esquirol in Paris, benannt nach dem andalusischen Philosophen und Hofarzt Averroès sowie der US-amerikanischen Bürgerrechtlerin Rosa Parks. Inwieweit sich die beiden Abteilungen unterscheiden, wird dabei nicht klar. Wie schon bei Auf der Adamant hält sich der Filmemacher mit Erklärungen und Kontexten zurück. Das Publikum muss sich vieles selbst erschließen in den rund 140 Minuten, die der Film dauert.
Gefüllt sind diese in erster Linie durch Gespräche. So sehen wir Männer und Frauen, die unterschiedlicher kaum sein können. Eine ältere Frau wird beispielsweise ausfällig, beleidigt ihr Gegenüber und blockt alles ab, was ihr zu nahe kommen könnte. Andere sind empfänglicher, sehen in den Gesprächen eine Chance, ihre Probleme in den Griff zu bekommen. Tatsächlich sind da einige Leute dabei, die sehr reflektiert sind, auch eloquent. Ohne dass Averroès & Rosa Parks dies näher ausführen müsste, wird damit verdeutlicht, dass eine psychische Erkrankung nicht zwangsläufig dem Bild einer Verrücktheit entsprechen muss. Die Menschen sind hier oft unglücklich oder überfordert, kommen ohne fremde Hilfe nicht mit einer Welt zurecht, die sie überfordert.
Der Versuch einer Hilfe
Solche Einblicke in das seelische Innenleben können schnell voyeuristisch werden. Das war dann auch ein Vorwurf, den man zuweilen dem ersten Film der Reihe gemacht hat. Bei Averroès & Rosa Parks ist das jedoch weniger ein Problem. Da ist praktisch niemand dabei, bei dem man das Gefühl hätte, er oder sie würde ausgestellt oder vorgeführt. In den meisten Fällen dürfte man eher Mitgefühl für die Menschen entwickeln, die da mit dem Leben hadern und nicht genau wissen, wie sie weitermachen sollen. Es sind Menschen, die irgendwie aus der Gesellschaft gefallen sind und jetzt Hilfe von außen brauchen. Das kann schwierig sein, mit den Regeln und dem fremdbestimmten Leben. Da kann auch schon mal die Befürchtung angesprochen werden, eingesperrt zu sein, isoliert.
Immer wieder schwanken die Gespräche dann auch zwischen Einfühlungsvermögen und Bestimmtheit. Auf der einen Seite begegnen die Therapeuten und Therapeutinnen diesen Menschen mit Verständnis, wollen verstehen, was in ihnen vorgeht. Aber sie müssen ihnen auch Grenzen setzen, einen Rahmen, innerhalb dessen sie sich bewegen. Das klappt mal besser, mal schlechter. Averroès & Rosa Parks zeigt durchaus auch die Grenzen solcher Therapien auf, wenn manchen nicht geholfen werden kann. Aber es gibt auch Momente der Hoffnung, wenn die Arbeit mit den Problemen neue Perspektiven eröffnet und nach Auswegen gesucht wird. Einen Filmpreis gab es dafür dann zwar nicht mehr, der zweite Teil erhielt sehr viel weniger Aufmerksamkeit. Sehenswert ist er aber, gibt er doch denjenigen eine Stimme, denen sonst niemand mehr zuhört.
OT: „Averroès & Rosa Parks“
Land: Frankreich
Jahr: 2024
Regie: Nicolas Philibert
Kamera: Nicolas Philibert
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