Wenn man das erste Mal in Japan ist, wird man vor allem die Höflichkeit der Japaner bemerken, die man aus anderen Kulturen so nicht kennt. Zuvorkommend und zuverlässig erscheinen einem viele Institutionen und Menschen, was eine wohltuende Veränderung im Kontrast zu denen in der Heimat ist. Jedoch hat diese Höflichkeit auch eine Kehrseite in Japan, deren Abgründe wir in den letzten Jahren immer wieder im Kontext von Tabuthemen erfahren. Nicht umsonst ist beispielsweise die japanische Rechtsprechung, was sexuelle Gewalt angeht, lange Zeit nicht überarbeitet worden. Vergewaltigung und Missbrauch werden in den japanischen Medien selten oder gar nicht besprochen und es ist für Betroffene von sexueller Gewalt schwierig, mit ihrer Geschichte zu den Behörden zu gehen, deren investigative Methoden bisweilen zu wünschen übrig lassen.
Als die japanische Journalistin Shiori Ito 2015 von einem Kollegen vergewaltigt wurde, machte sie Bekanntschaft mit diesem System, denn als sie beschloss, gegen den Mann, der zusätzlich noch Beziehungen zum damaligen japanischen Premierminister unterhielt, vorzugehen, erfuhr sie am eigenen Leib, was es heißt, sich gegen eine Kultur des (Ver-)Schweigens aufzulehnen. Ito war zu dem Zeitpunkt noch jung, aber keineswegs naiv, denn sie ahnte bereits, dass dies ein Kampf werden würde, der mit sehr vielen Rückschlägen und Hürden versehen sein würde. Sie war 25, als die ersten Nachforschungen und Befragungen zu dem Fall durchgeführt wurden, und sie war 33 Jahre alt, als sie einen ersten Schlussstrich unter die Erfahrungen ziehen konnte, selbst wenn die emotionale Verarbeitung noch lange andauern wird.
In ihrer Dokumentation Black Box Diaries, die unter anderem auf dem Filmfest München zu sehen war, gibt sie ihrem Zuschauer Einblicke in diesen Kampf, ihre eigene Recherche, den Prozess und dessen unterschiedlichen Stationen. Immer deutlicher wird ihr dabei, dass es nicht nur um einen individuellen Fall geht, sondern um einen Kampf um Veränderung gegen das Schweigen und die Angst vieler Betroffener, die sich aus diversen Gründen nicht trauen, ihren Fall publik zu machen. Die Black Box, die im Titel genannt wird, ist dabei als Metapher für ein Justizsystem zu verstehen, bei dem das Ergebnis nie sicher zu nennen ist, besonders dann nicht, wenn der Angeklagte, wie in Itos Fall, über einflussreiche Beziehungen zur Politikern verfügt.
Die Sache als Reporterin sehen, nicht als Opfer
Man ist in Fällen wie dem Shiori Ito schnell dabei, den Begriff des Opfers zu gebrauchen, doch für sie kam diese Bezeichnung nicht in Frage. Auch wenn Medien und später das Gericht diesen Begriff nutzen werden, stellt sie in Black Box Diaries früh fest, dass sie den Fall als Reporterin angehen und behandeln wird. Nicht immer gelingt ihr dieses professionelle Abstand zu den Ereignissen, was nicht sonderlich verwundert. Aber Ito kann über ihren eigenen Fall Beobachtungen anstellen über ein System, dem es bis heute schwer fällt, gewisse Umstände zu ahnden, die in der öffentlichen Meinung noch als Tabuthemen angesehen sind. Die Black Box, der ungewisse Ausgang einer Anklage ist verbunden mit alteingesessenen Strukturen, die das Schweigen nicht nur willkommen heißen, sondern es auch forcieren, wenn nötig mit Einschüchterung und anderen Methoden, wie Ito und ihre Team mehr als einmal erfahren.
Das bleibt natürlich nicht ohne Folgen, sodass die Momente der Heiterkeit auch als Widerstand gegen eine oft bedrückende Realität betrachtet werden können. Dennoch bleibt das Gesicht Itos, in dem sich Frustration, Wut, Angst, aber auch Mut und Selbstvertrauen widerspiegeln, der Ankerpunkt von Black Box Diaries, denn die Wahrheit, das höchste Gut eines jeden Reporters, ist auf ihrer Seite und wird letztlich länger verweilen als jedes Urteil, egal ob gerichtlich oder als Online-Kommentar.
OT: „Black Box Diaries“
Land: Japan, USA, UK
Jahr: 2024
Regie: Shiori Ito
Musik: Mark degli Antoni
Kamera: Hanna Aqvillin, Yuta Okamura, Shiori Ito, Keke Shiratama, Yuichiro Otsuka
Sundance Film Festival 2024
SXSW 2024
Filmfest München 2024
Zurich Film Festival 2024
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)