1963 liegt der Zweite Weltkrieg bereits fast zwei Jahrzehnte zurück. Doch noch immer ist nicht alles aufgearbeitet, was seinerzeit geschehen ist. Vor allem der Schrecken des Holocausts wartet weiterhin auf seine Verarbeitung. Ein in Frankfurt beginnender Prozess soll sich mit den Vorgängen in dem Konzentrationslager in Auschwitz befassen. Unter dem Vorsitz des Richters (Rainer Bock) gilt es nun, die Wahrheit herauszufinden und die Schuldfrage zu klären. Wer wusste davon? Wer hatte einen konkreten Anteil daran? Dabei stehen sich Anklage (Clemens Schick) und Verteidigung (Bernhard Schütz) gegenüber. Im Mittelpunkt der Verhandlung sind 18 Angeklagte – sowie Dutzende von Zeugen und Zeuginnen …
Gerichtliche Aufarbeitung des Holocausts
Wie lassen sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit sühnen, welche die Grenzen des Vorstellbaren überschreiten? Und kann man diese erklären? Das sind nur zwei der vielen Fragen, die einem unweigerlich in den Sinn kommen beim Anschauen von Die Ermittlung. Basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück des deutsch-schwedischen Autors Peter Weiss, welches 1965 uraufgeführt wurde, erhalten wir einen Einblick in den Frankfurter Auschwitzprozess, der von 1963 bis 1965 stattgefunden hat. Das Stück selbst basierte dabei auf persönlichen Aufzeichnungen, Zeitungsartikeln und Protokollen und hat einen stark dokumentarischen Charakter. Nicht die einzelnen Figuren stehen im Mittelpunkt, sondern das System des Konzentrationslagers.
Das ist im Film genauso. Insgesamt 60 Schauspieler und Schauspielerinnen treten darin auf. Die 18 Angeklagten erhalten dabei einen Namen, als Zeichen einer individuellen Verantwortung. Der Rest wird auf die Funktion reduziert, die Zeugen und Zeuginnen werden einfach von 1 bis 39 durchgezählt. Die meisten sind auch nur kurz zu sehen. Selbst die ausführlicheren Zeugenaussagen dauern nur wenige Minuten. Und doch summiert sich das, die vollständige Fassung von Die Ermittlung dauert vier Stunden. Das wird viele abschrecken, zumal die Adaption auf größere Emotionalisierung verzichtet. Anders als bei so manchem Gerichtsdrama, welches in Hollywood produziert wurde, ist das hier alles ganz sachlich und nüchtern gehalten, spartanisch geradezu. Dann und wann wird einer der Angeklagten lauter, empört darüber, zur Verantwortung gezogen werden zu sollen. Aber das ist eher die Ausnahme in diesem sehr ruhigen Drama.
Erinnerung und Warnung zugleich
Das bedeutet aber nicht, dass einem dieses nicht auch so noch nahegehen kann. Eine Besonderheit ist, wie die Verhandlung gewissermaßen chronologisch vorgeht. So beginnen die Zeugenaussagen mit der Ankunft in Auschwitz und enden mit der Ermordung. Nichts davon wird gezeigt, alles wird durch Sprache vermittelt. Und doch hinterlässt das Eindruck, die detaillierten Ausführungen lassen ein grauenerregendes Kopfkino entstehen. Vor allem das Mechanische an diesem Tötungsapparat darf schockieren. Die Ermittlung beschreibt optimierte Prozesse, bei denen völlig in den Hintergrund rückt, dass es da um Menschen geht, um Individuen und Familien. Denn eben das wurde ihnen abgesprochen, die Verantwortlichen hatten jedes Gefühl dafür verloren, was sie taten.
Zwischendurch wird in Die Ermittlung schon thematisiert, weshalb die Angeklagten da so distanziert sein konnten. Eine eindeutige Antwort gibt es aber nicht. Das Drama, welches auf dem Filmfest München 2024 Premiere feierte, ist dennoch sehenswert. Regisseur RP Kahl (Als Susan Sontag im Publikum saß, A Thought of Ecstasy) erinnert an das, was gewesen ist, abstrahiert aber so weit, dass der Film mehr ist als ein Zeitdokument. Er ist eine grundsätzliche Warnung vor dem, was in den Menschen lauert, handelt von Entmenschlichung und persönlicher Verantwortung. Und das sind Themen, die gerade heute wieder erschreckend relevant sind. Ob das Monumentalwerk dazu geeignet ist, Menschen zu ändern, das darf man zwar bezweifeln. Wer sich das hier anschaut, dürfte ohnehin schon überzeugt sein. Und doch ist es gut, dass es diese Adaption gibt, und sei es als Mittel gegen die Verdrängung, welche nicht nur die Angeklagten zeigen, sondern auch viele, die sich heute lautstark zu Wort melden.
OT: „Die Ermittlung“
Land: Deutschland
Jahr: 2024
Regie: Rolf Peter Kahl
Drehbuch: Peter Weiss
Vorlage: Peter Weiss
Musik: Matti Gajek
Kamera: Guido Frenzel
Besetzung: Rainer Bock, Clemens Schick, Bernhard Schütz, Arno Frisch, Thomas Dehler, Sabine Timoteo, Christiane Paul, Nicolette Krebitz, Barbara Philipp, Tom Wlaschiha, Karl Markovics, Wilfried Hochholdinger
Ihr wollt mehr über den Film erfahren? Wir hatten die Gelegenheit, uns mit Tom Wlaschiha zu treffen, der einen der Zeugen spielt. Im Interview zu Die Ermittlung sprechen wir über die Arbeit an dem Drama und die Bedeutung, an den Holocaust zu erinnern.
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