Betta (Simona Malato) und Nuccia (Tiziana Cuticchio) leben zusammen mit einigen anderen Frauen an der Küste Siziliens in ein paar heruntergekommenen Häusern, die man nur noch als Bruchbuden bezeichnen kann. Zwar haben sie das Meer gleich vor der Haustür, doch davon abgesehen gibt es in der unmittelbaren Umgebung nichts als Staub und Dreck. Ihren Lebensunterhalt verdienen sich die Frauen als Prostituierte und werden von den Männern des nahegelegenen Dorfes besucht. Neben einiger ihrer Kinder lebt auch noch Arturo (Simone Zambelli) in ihrer kleinen Gemeinschaft. Der 18-jährige ist der Sohn einer kurz nach seiner Geburt verstorbenen Freundin von Betta und Nuccia. Er kann nicht sprechen und sein geistiger Entwicklungstand entspricht dem eines Kleinkindes. Großgezogen von den Prostituierten, verbringt er einen Großteil seines Alltags zusammen mit den anderen Kindern. Da er aber nicht für sich selbst sorgen kann, muss er Tag für Tag von den Erwachsenen gepflegt werden. Dies muss auch die neu zu der Gruppe gestoßene Anna (Milena Catalano) lernen, die Arturo schnell ins Herz schließt.
Zwischen Schmutz und Hoffnung
In vielerlei Weise ist Misericordia ein abstoßender Film: Das beginnt schon bei den vollkommen verdreckten Hütten, die den Frauen und ihren Kindern als Behausung dienen. Durch den undichten Boden dringt dort immer wieder das Meerwasser ein, das manchmal knöcheltief steht. Den Schmutz und Schimmel meint man geradezu riechen zu können, dennoch müssen die Frauen dort kochen, essen, schlafen und ihrer Arbeit nachgehen – letzteres in einem gerade einmal durch einen Vorhang abgetrennten Nebenraum auf einem schäbigen Bett. Arturo und die Kinder spielen zwischen vollen Müllsäcken und Schrott, der unweit der Häuser herumliegt. Und als wären miserable hygienische Zustände und ein generell äußerst niedriger Lebensstandard nicht schon schlimm genug, müssen sich Betta, Nuccia und Anna auch noch immer wieder mit gewaltbereiten Freiern herumschlagen. Dazu ist in erster Linie Polifemo (Fabrizio Ferracane) zu zählen, dessen Aggressivität ganz besonders Arturo stark verängstigt.
Misericordia zeigt also Menschen, die unter miserablen Umständen quasi am Rande der Gesellschaft leben. Und dennoch liegt auch einiges an Hoffnung in dem Film. Denn die Frauen bilden eine eingeschworene Gemeinschaft, gehen zusammen durch dick und dünn und sind trotz so manch heftiger Streitereien immer füreinander da, wenn es darauf ankommt. Ganz besonders zeigt sich ihr Zusammenhalt in der Weise, wie sie für Arturo sorgen. Der wiederum scheint sich an seinen widrigen Lebensumständen nicht zu stören; er kennt kein anderes Leben, kann sich nicht dazu äußern und lebt stets unbekümmert in den Tag hinein. Sein für Außenstehende höchst seltsam wirkendes Verhalten führt zu einigen der absurderen Bilder des Films, etwa wenn er mit einer Taucherbrille auf dem Gesicht am Küchentisch alte Comics durchblättert.
Dokumentarisch und ungeschönt
Genau wie Regisseurin Emma Dante keinerlei Scheu hat, den Schauplatz ihrer Geschichte verdreckt und eben realistisch aussehen zu lassen, so mangelt es auch ihren Darstellerinnen hier an jeder Form von Eitelkeit. Betta, Nuccia und Anna sind absolut glaubwürdige Figuren, an denen nichts geschönt oder geschliffen wirkt. Sie sprechen, wie ihnen die Schnauze gewachsen ist, und bewegen sich in der für das Publikum so abstoßend wirkenden Umgebung mit einer Gewohnheit und Selbstverständlichkeit, als hätten die Schauspielerinnen dort vor den Dreharbeiten schon mehrere Monate verbracht. Da zudem die Handlung von Misericordia lange auf keinen konkreten Punkt zuläuft, verstärkt dies den zeitweiligen dokumentarischen Eindruck des Films.
Dieser liefert so eine beeindruckend gespielte, in ihrem Realismus bisweilen abstoßend wirkende Sozialstudie von Menschen am Rande der Gesellschaft. Arturos Ziehmütter träumen zwar von einem besseren Leben, aber in erster Linie gar nicht für sich selbst, sondern für Arturo. Sie möchten ihm die Aufnahme in einer Pflegeeinrichtung ermöglichen, wo man sich seinen Bedürfnissen entsprechend um ihn kümmert. Dies zeigt einmal mehr den engen Zusammenhalt von Betta, Nuccia und Anna inmitten von Lebensumständen, die die meisten Menschen mit Abscheu betrachten.
OT: „Misericordia“
Land: Italien
Jahr: 2023
Regie: Emma Dante
Drehbuch: Elena Stancanelli, Giorgio Vasta, Emma Dante
Musik: Gianluca Porcu
Kamera: Clarissa Cappellani
Besetzung: Simona Malato, Tiziana Cuticchio, Simone Zambelli, Milena Catalano, Fabrizio Ferracane
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