Architecton
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Architecton

Architecton
„Architecton“ // Deutschland-Start: 3. Oktober 2024 (Kino)

Inhalt / Kritik

„Warum bauen wir Hässliches, obwohl wir Schönes bauen könnten?“ Die einfache Frage richtet Regisseur Victor Kossakovsky im Epilog an den preisgekrönten Designer und Architekten Michele De Lucchi. Doch der weiß keine Antwort. Er schämt sich sogar, in Mailand selbst an einem 08/15-Wolkenkratzer aus Beton mitgewirkt zu haben. Die Antwort gibt nicht der Protagonist des wuchtigen, in Schönheit schwelgenden Dokumentarfilms, sondern das cineastische Werk selbst. Und zwar, wie es sich für die visuelle Kunst ziemt, nicht in Worten, sondern in Bildern. Eine Doku fürs Kino sei kein Journalismus wie im Fernsehen, sondern ein ästhetisches Gebilde, sagt der aus Russland stammende, in Berlin lebende Regisseur.

Schönheit, gepaart mit Erhabenem

Von dem abschließenden Gespräch zwischen Kossakovsky und De Lucchi darf man sich also nicht täuschen lassen. Architecton ist, wie schon die vorigen Filme des Regisseurs, zu 90 Prozent kein Diskurs und schon gar kein politisches Pamphlet. Das Werk trägt die unverwechselbare Handschrift eines meditativ gestimmten Bildkünstlers, der sich dem reinen Sehen (und Hören) verschrieben hat. Kossakovsky „argumentiert“, wenn man das so nennen will, mit Kameraflügen, Schnitten oder Zeitlupen. Zum Beispiel, wenn sein Kameramann Ben Bernhard einen Felssturz filmt. Im Lösen der Steine, im Zittern des Hangs, im unaufhaltsamen Hinabdonnern der schweren Riesen lässt er eine Urgewalt spüren, vergleichbar den massiven Gletscherstürzen in Kossakovskys Aquarela (2018), dem Film über die Kraft des Wassers. Schönheit paart sich hier wie dort mit dem Erhabenen, der Ehrfurcht vor der Gewalt der Natur. Sehr geschickt bezieht sich der Filmtitel Architecton in seiner Doppelbedeutung nicht nur auf den obersten Architekten eines Teams von Baukünstlern. Sondern auch auf den Schöpfer der Erde.

Den Wegen des Wassers in Aquarela gleichen im aktuellen Film die Wege der Steine. Von ihnen gibt es zwei, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der erste beginnt in den altlibanesischen Ruinen der schon vor den Römern besiedelten Stadt Baalbek. Er zeigt, wie sehr man die Steine schätzte, wie lange sie die Zeit überdauern und welche Techniken bereits die vorrömischen Baumeister gekannt haben mussten, um unfassbar große und schwere Felsen zu bearbeiten und aus dem Boden zu lösen. Das Gestein, dieses Kind der Erde, aufgetürmt zu Gebirgen, wird hier zwar benutzt und behauen, aber nicht zerstört. Anders das moderne Bauen: Aus gigantischen Steinbrüchen mit brutaler Gewalt herausgesprengt, wandert das Gestein in Zement- und Betonfabriken, die es zerkleinern und zermahlen, bis nur noch Kies und Sand davon übrig ist. Bestens verwendbar in Plattenbauten, dient die ehemals ursprüngliche Natur dem Menschen vielleicht 40 bis 50 Jahre, bevor die hässlichen Betonklötze abgerissen werden und auf gigantischen Bauschuttdeponien landen. „Beton lebt nicht, er ist tot“, sagt der italienische Architekt Michele De Lucchi.

In einem zweiten Assoziationsstrang umkreist der Star-Designer mit dem grauen Rauschebart einen Ausweg aus dem zerstörerischen und klimaschädlichen Beton-Dilemma. Wobei „kreisen“ hier ganz wörtlich gemeint ist. De Lucchi lässt nämlich im Garten seines altehrwürdigen Landhauses ein Rund aus Steinen anlegen, mit viel Geduld und großem Respekt vor dem natürlichen Material. Zwar lässt sich aus der bildstarken, anregungsreichen Aktion keine eindeutige Interpretation herauslesen, dazu ist der gesamte Essayfilm sowieso viel zu deutungsoffen. Aber man darf in dem bedächtigen Rhythmus der Bilder seine Gedanken schweifen lassen und stößt dann auf mindestens drei mögliche Anspielungen.

Das Paradox der Baukunst

Zum einen verkörpert der Kreis den Weg des Lebens und den einzig nachhaltigen Umgang mit der selbst zyklischen Natur. Zum anderen huldigt De Lucchi mit seinem Kreis dem Eigenleben der Pflanzen und Tiere. Kein Mensch darf das Kreisinnere nach der Fertigstellung mehr betreten. Dennoch – und das ist ein kleines Paradox – bedarf es des Menschen und der Baukunst, um die Natur in Ruhe zu lassen. Im Presseheft erzählt Regisseur Kossakovsky, der in der Nähe des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof lebt, von seiner Bewunderung für die Bürger der Stadt, die bislang erreicht haben, dass das Tempelhofer Feld, eine riesige Fläche mitten in der Metropole, vorerst nicht weiter überbaut wird.

Anders als Aquarela oder der wunderbare Tierschutzfilm Gunda (2019) kann sich Architecton allerdings nicht auf das reine, assoziative, essayistische Sehen verlassen. Denn die Anliegen der beiden erstgenannten entfalten sich quasi von selbst. Jeder weiß, wie elementar Wasser für jegliches Leben ist, und allen ist klar, zu welchem Zweck ein Schwein wie Gunda gehalten wird. Aber nicht jedem Zuschauer steht vor Augen, wie Beton hergestellt wird. Der Epilog – eine kleine Wutrede auf das aus Steinen gewonnene Baumaterial – ließ sich wohl nur bedingt vermeiden. Er kommt abrupt und stört den Fluss des Films, der zuvor viele Fragen offen gelassen hatte. Vermutlich wäre es besser gewesen, öfter ein paar erklärende Schautafeln einzublenden, um die Orientierung an den unterschiedlichen Orten und die Einordnung des Geschehens zu erleichtern. Dann hätte der bildgewaltige Film vermutlich gar keinen diskursiven Epilog mehr gebraucht.

Credits

OT: „Architecton“
Land: Deutschland, Frankreich
Jahr: 2024
Regie: Victor Kossakovsky
Drehbuch: Victor Kossakovsky
Musik: Evgueni Galperine
Kamera: Ben Bernhard

Bilder

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Architecton
fazit
„Architecton“ ist ein Dokumentarfilm, wie ihn nur Victor Kossakovsky auf die Leinwand zaubern kann: als Sinfonie von Bildern, kongenial unterlegt mit den orchestral-elektronischen Klängen von Filmkomponist Evgueni Galperine. Nur der allzu kämpferische Schluss stört die assoziative Hymne auf die Schönheit der Steine und die Baukunst der Antike.
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