Vom spanischen Weinbaugebiet Rioja hat wohl jeder schon mal gehört, selbst eingeschworene Biertrinker oder Abstinenzler. Weniger bekannt sind allerdings die Städte, Dörfer und Flüsse dieser Region im Nordosten des Landes. Nur passionierte Weinfreunde kennen sich mit den Böden aus, mit den klimatischen Gegebenheiten oder der besonderen wirtschaftlichen Struktur. Dokumentarfilmer José Luis López-Linares hat sich die Rioja, die es an Berühmtheit inzwischen mit Burgund oder Bordeaux aufnehmen kann, einmal genauer angesehen. Er trifft Menschen, die leidenschaftlich für ein Genussmittel leben, das an Komplexität, Handwerkskunst und Ausdrucksstärke einzigartig ist, zumindest jenseits der Massenproduktion. Zugleich spürt der Filmemacher (Hieronymus Bosch – Garten der Lüste, 2016), der sich auf kulturhistorische Themen spezialisiert hat, den Traditionen nach, die ihre Spur auch im Wein hinterlassen.
Schwelgen in Schönheit
Sonnenaufgang, Kameraflug über paradiesische Landschaften, Schnitt auf pralle, reife Trauben – mit dem Schwelgen in Schönheit beginnt es. Und so geht es weiter, mit mildem Licht, kräftigen Farben, ästhetisierenden Zeitlupen, charakterstarken Menschen in geschmackvoller Kleidung. Regisseur José Luis López-Linares zeigt uns die Rioja als einen Garten Eden. Der Sündenfall ist weit weg. Schweiß, Blut und Tränen bleiben Fremdwörter. Bei der ausschließlich per Hand vollzogenen Traubenernte geht es sauber zu, niemand klagt über Missernten, der Klimawandel scheint keinem zuzusetzen, obwohl auch der für die Region wichtige Fluss Ebro Wasser verliert. Das Publikum ist zu Besuch bei Menschen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben und Klasse statt Masse produzieren. Deren Produkte von Kritikern höchste Punktzahlen bekommen und Weinkenner in London ebenso begeistern wie in Los Angeles oder Tokio. Und die in derart makellosen Bildern in Szene gesetzt werden, dass man des Öfteren den Eindruck einer werblichen Inszenierung kaum loswird. Tatsächlich verrät der Vorspann, dass der Film unter Mitwirkung und Schirmherrschaft der Region La Rioja entstand.
Trotzdem hat die schwärmerische Dokumentation auch ihre informativen Seiten. Man erfährt von nährstoffarmen Kalkböden, die für sonstige Landwirtschaft völlig untauglich sind, aber besonders aromareiche Trauben hervorbringen. Man lernt etwas über das Alter der Reben, den richtigen Zeitpunkt für die Ernte, den Prozess der Gärung und die Finessen der Kellerwirtschaft. Es werden die drei Subzonen der Rioja gezeigt, die sonnige im Süden, die kühlere im Norden und die flachere im Westen. Besonders faszinierend gerät der kleine geschichtliche Ausflug in die goldenen Jahre der Rioja, als die aus Amerika eingeschleppte Reblaus um 1900 bereits die berühmten französischen Weinbaugebiete zerstört, aber Spanien noch verschont hatte. Allerdings reißt der Film seine Einzel- und Unterthemen jeweils nur an, statt sie zu vertiefen oder in einen roten Faden einzuordnen.
Kernige Typen
Denn Das Land der tausend Weine will kein Lehrfilm sein, sondern ein Genuss- und Feelgoodmovie. Kaum eine Szene, bei denen die auftretenden Winzer, Sommeliers, Kellermeister, Önologen oder Journalisten kein Glas in der Hand halten. Bei aller Betonung von Individualität und Vielfalt soll das Erklären der Unterschiede nicht in Wissenschaft abgleiten, sondern eher die Menschen vorstellen, die ihre je eigene Weinphilosophie vertreten. Ihre Produkte sind so einzigartig wie sie selbst, es gibt Junge und Alte, Traditionsorientierte und Innovationsfreudige, erfreulich viele Frauen und einige Männer. Zu den ungewöhnlichsten zählt eine Winzerin aus Hongkong, die zum Entsetzen ihrer Eltern erst Köchin wurde und sich dann dem Weinbau verschrieb. Oder ein Winzerinnenkollektiv, das immer eine kleine Frotzelei parat hat. Oder der ältere Herr mit Baskenmütze, der die Region als junger Mann verließ, um in Barcelona bei Seat gutes Geld zu verdienen, dann aber von der Liebe zum Wein quasi nach Hause beordert wurde. Und der sich freut, dass seine Töchter in der Schule so schlecht waren, dass ihnen kaum etwas anderes übrig blieb, als den Betrieb des Vaters zu übernehmen.
Vor allem für anspruchsvolle Freunde und Genießer des Rebensaftes hat José Luis López-Linares seinen Film gemacht. Er lädt sie zu einer Weinreise im Kinosessel ein und lässt alles weg, was das Vergnügen trüben würde – es sei denn, man hätte vergessen, sich an der Kasse einen guten Tropfen einschenken zu lassen. Von der visuellen Schönheit her kann es Das Land der tausend Weine durchaus mit dem Spielfilm Sideways (2004) von Alexander Payne aufnehmen. Nur dass letzterer eben auch noch ein paar gewichtige Themen aufzubieten hatte und keineswegs im Verdacht stand, sich der Wein- und Tourismusbranche anzubiedern.
OT: „Rioja, la tierra de los mil vinos“
Land: Spanien
Jahr: 2023
Regie: José Luis López-Linares
Drehbuch: José Luis López-Linares
Musik: Jorge Magaz
Kamera: José Luis López-Linares
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