Ein echter Gentleman

Bei Saygın (Çagatay Ulusoy) werden die Frauen reihenweise schwach. Das liegt nicht nur an seinem guten Aussehen, sondern auch an seinem Talent, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dieses lässt er sich regelmäßig vergolden, als Gigolo kann er sich über mangelnde Zuwendung nicht beklagen. Eine seiner regelmäßigen Kundinnen ist Serap (Senay Gürler), eine ältere Frau, die geradezu besessen ist von dem Gedanken, ihren Liebhaber nur noch für sich zu haben. Kompliziert wird es jedoch, als Saygın Nehir (Ebru Sahin) kennenlernt, die beste Freundin von Seraps Tochter Fulya. Schnell entwickeln die beiden Gefühle füreinander. Gefühle, die der Callboy in seiner Arbeit nicht gebrauchen kann und von denen Serap nichts wissen sollte …

Große Gefühle aus der Türkei

Mit romantischen Titeln aus der Türkei scheint Netflix gute Erfahrungen gemacht zu haben. Zumindest nimmt der Streamingdienst regelmäßig neue bei sich auf. Da war dieses Jahr In guten Händen 2, bei dem Trauerarbeit und eine neue Liebe Hand in Hand gehen. In Danke – Nächster! wird die Geschichte einer Frau erzählt, die nach dem Ende ihrer Beziehung einen neuen Mann sucht. Bei Die Kunst, ein Herz zu stehlen wiederum wurde die Romantik mit etwas Krimi angereichert, wenn das Thema Kunstdiebstahl eine große Rolle spiele und ein Ex-Paar noch einmal zusammenführt. Wer all diese Beiträge schon durch hat, kann es mit Ein echter Gentleman versuchen. Denn auch in dem türkischen Film geht es sehr viel um Gefühle, von denen einige echt sind, andere nur vorgetäuscht.

Etwas ungewöhnlich dabei ist, wie männliche Prostitution thematisiert wird. Meistens ist Sexarbeit in Filmen Frauensache. Allerdings hat Saygın nur wenig mit der Arbeitssituation zu tun, die seine Kolleginnen so kennen. Er verkehrt nur in hohen Kreisen, trägt schicke Anzüge, kann sich aussuchen, welche Aufträge er annimmt. Es gibt auch nicht den großen Druck, dem Prostituierte zuweilen ausgesetzt sind. Ein echter Gentleman handelt nicht nur davon, wie ein Mann die Träume von Frauen erfüllt. Der Film spielt selbst in einer Art Traumwelt. Man wartet nur darauf, dass irgendwann der Ausflug in ein Schloss ansteht. Und natürlich sehen alle Menschen auch sehr gut aus, egal, was sie tun. Bei dem Drama hat die Realität keinen Platz, die stört nur.

Die Oberfläche eines Abgrunds

Das heißt aber nicht, dass hier alles in wundersamer Harmonie existiert. Der Film versucht schon, Abgründe zu kreieren und dem Publikum kaputte Menschen zu präsentieren. Dass die Besessenheit von Serap nicht ganz gesund ist, ein weiteres Beispiel für Traumtänzerei, das ist klar. Aber auch Saygın soll als komplexes Wesen mit weniger vorzeigbaren Stellen wahrgenommen werden. Davon sollte man aber nicht viel erwarten. Ein echter Gentleman bleibt auch da an der Oberfläche und versucht, die Zuschauer – und vor allem die Zuschauerinnen – mit etwas schöner Fassade zufriedenzustellen. Die Tragik kommt aus dem Baukasten, vergleichbar zu Herzkino-Produktionen, die große Emotionalität vortäuschen und dabei doch nur billige Konstrukte sind. Da kann die Hochglanzoptik nichts ändern.

Das darf einem natürlich gefallen. Schließlich hat Hauptdarsteller Çagatay Ulusoy (Kübra, Der Schneider) durchaus Charisma und dürfte dank seiner anderen Netflix-Auftritte bereits Fans haben. Wer aber nicht für ihn schwärmt, dürfte seine Probleme haben, etwas mit dem neuen Film anzufangen. Der ist zwar recht lang geworden und arbeitet mit einer komplizierten Figurenkonstellation, hat aber nicht wirklich viel zu sagen. Der Zielgruppe dürfte das egal sein. Die wird sich Ein echter Gentleman anschauen, um zu sehen, wie zwei attraktive Menschen die echte Liebe finden. So wie in vielen anderen Filmen eben auch. Dass das dann alles übertrieben ist, auch bei der Inszenierung ganz dick aufgetragen wird, gehört dazu. Das hat sich bei anderen bewährt. Warum also etwas Eigenes wagen?