Ein bisschen unbeholfen ist das erste Treffen von Anx (Matthieu Sampeur) und Cass (Édith Proust) ja schon, zu unterschiedlich sind die beiden. Während er eher zurückhaltend und vorsichtig ist, kennt sie weder Scham noch Schüchternheit. Aber sie sind fest entschlossen, sich auch nach der gemeinsamen Nacht weiterhin zu sehen und Zeit miteinander zu verbringen. Das stellt sich als schwieriger heraus als zunächst gedacht. Ein mysteriöses Virus geht um, welches zu bizarren Hautveränderungen führt. Niemand weiß, woher es kommt oder wie sich die Menschen gegenseitig anstecken. Es ist nicht einmal sicher, wohin diese eigenartigen Mutationen führen werden. Als eilig ein Lockdown beschlossen und zwischenmenschlicher Kontakt verboten wird, entscheidet sich Cass, einfach zu Anx zu ziehen. Dabei wird die junge Liebe durch die äußeren Umstände auf eine schwere Probe gestellt …
Eine Krankheit wie keine andere
Echt jetzt, noch ein Film, der sich mit der Corona-Pandemie auseinandersetzt? Viereinhalb Jahre nach dem weltweiten Ausbruch dürfte das Interesse bei den meisten gering sein, sich noch einmal mit dem Thema zu beschäftigen. Die Lockdowns waren lang genug, daran muss man nun wirklich nicht extra erinnert werden. Zumindest anfangs sieht es so aus, als wäre Else der nächste Titel, der sich noch einmal dieser finsteren, nicht sehr lang zurückliegenden Vergangenheit zuwendet. Zumindest erinnert das Szenario frappierend an Auf die Freude, wo sich ebenfalls zwei junge Menschen während der Pandemie kennenlernen und zusammenziehen, dabei gemeinsam versuchen, die Welt da draußen zu vergessen. Das klappt natürlich nicht, es kommt zu einer Reihe von Konflikten.
Trotz der offensichtlichen Gemeinsamkeiten gehen die beiden französischen Produktionen aber in unterschiedliche Richtungen. War bei dem oben genannten Drama die Pandemie letztendlich nur ein Anlass, um sich mit der Beziehung der beiden zu beschäftigen und zwei Charakterporträts anzulegen, nimmt bei Else die Krankheit einen deutlich größeren Raum ein. Diese ist auch kaum mit einer zu vergleichen, wie wir sie aus dem wahren Leben kennen. Zu viel sollte man über sie im Vorfeld nicht erfahren. Regisseur Thibault Emin und seine beiden Co-Autorinnen Alice Butaud und Emma Sandona haben sich eine ausgesprochen bizarre Erkrankung ausgedacht, die von Minute zu Minute seltsamer wird. Sie ermöglicht zudem die unterschiedlichsten Veränderungen, da sie keiner wirklich zu fassenden Regel folgt.
Body Horror, Rätsel und surreale Bilder
Das könnte manche frustrieren. Was als Beziehungsgeschichte beginnt, verwandelt sich später in einen Body-Horror-Streifen, bevor es dann richtig angefahren wird. Wirkliche Erklärungen gibt es dann keine mehr, zumindest nicht solche, die zu eindeutigen Antworten führen. Ansätze finden sich zwar schon. Beispielsweise wird irgendwann die Geschichte von Lungenfischen erzählt, die sowohl über Kiemen wie auch Lungen verfügen, als Beispiel einer Mutation. Das Publikum darf bei Else ausgiebig darüber nachdenken, was das alles zu bedeuten hat – und ob es überhaupt eine Bedeutung gibt. Existenzielle Fragen lassen sich, verpackt in monströse Veränderungen, schon finden. Es ist aber den Zuschauern und Zuschauerinnen überlassen, was sie daraus machen wollen.
Wer gerne grübelt und rätselt, bekommt hier also einiges zu tun. Ein mindestens ebenso großes Argument zum Reinschalten ist die Optik. Der Mystery-Horrorfilm, der auf dem Toronto International Film Festival 2024 Weltpremiere hatte, fesselt durch kunstvolle Bilder, die gerade im letzten Drittel immer seltsamer werden. Man weiß oft schon gar nicht mehr, was man überhaupt sieht, wenn alles miteinander verschmilzt, es keine festen Grenzen mehr gibt. Das Ergebnis ist eine Atmosphäre, die zwischen klaustrophobisch und surreal schwankt. Zum Ende hin scheint man sich auch vor Silent Hill verneigen zu wollen. Doch trotz diverser Titel, mit denen man Else vergleichen könnte, ist die französisch-belgische Coproduktion ein sehr eigenwilliges Werk, das es einem sicher nicht einfach macht, das einem aber definitiv in Erinnerung bleiben wird. Die faszinierende Slow-Motion-Eskalation macht zudem neugierig darauf, was Langfilmdebütant Emin in Zukunft wohl noch alles zu zeigen hat.
OT: „Else“
Land: Frankreich, Belgien
Jahr: 2024
Regie: Thibault Emin
Drehbuch: Thibault Emin, Alice Butaud, Emma Sandona
Musik: Shida Shahabi, June Ha
Kamera: Léo Lefèvre
Besetzung: Matthieu Sampeur, Édith Proust, Lika Minamoto
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