Als Anwältin hat Rita (Zoe Saldaña) viel Erfolg, sie hat zahlreiche Verbrecher vor Gericht vertreten und freibekommen, auch wenn den Ruhm dafür meistens ihr Chef einheimst. Kartellboss Manitas del Monte (Karla Sofía Gascón) ist das Talent der Mexikanerin aber nicht verborgen geblieben, weshalb er einen besonders heiklen Auftrag für sie hat. Er will einen Schlussstrich unter sein kriminelles Leben ziehen und noch einmal neu anfangen. Vor allem will er in Zukunft ein Leben als Frau führen können, was er sich schon länger erträumt hat. Rita soll nicht nur den passenden Arzt finden, der diese geschlechtsangleichende Operation durchführen kann. Sie soll zudem ein neues Zuhause für del Montes Ehefrau Jessi (Selena Gomez) und die beiden Kinder finden, die nichts von der neuen Identität erfahren dürfen. Doch so einfach wie gedacht ist das mit dem Schlussstrich nicht …
Bekanntes neu interpretiert
Jacques Audiard zählt sicherlich zu den spannendsten französischen Filmemachern der Gegenwart. Natürlich ist er vor allem mit Dramen bekannt geworden. Aber selbst wenn er sich an andere Genres heranwagt, etwa den Western The Sisters Brothers oder den tragikomischen Schwarzweiß-Liebesfilm Wo in Paris die Sonne aufgeht, zeigt er seine Klasse. Insofern darf man ihm grundsätzlich vieles zutrauen. Und doch dürften die meisten im Publikum überrascht sein, wenn sie sich Emilia Pérez anschauen. Nicht nur, dass er hier erneut einen komplett anderen Weg einschlägt, den man so nicht erwartet hätte, und der inzwischen 72-Jährige eine Experimentierfreudigkeit demonstriert, wie man sie selbst bei jungen Kollegen und Kolleginnen kaum findet. Man weiß ja nicht einmal, als was man das neueste Werk des Veteranen bezeichnen soll.
As grundsätzliche Szenario ist dabei gar nicht mal so ungewöhnlich. Dass jemand sein kriminelles Dasein hinter sich lassen will, ist in Filmen ein wiederkehrendes Motiv. Ebenso oft kommt es dazu, dass irgendwelche Schwierigkeiten dabei auftauchen, weil etwa ein letzter Coup schiefgeht oder man nicht die Unterwelt verlassen darf. Regelmäßig werden solche Figuren dann von ihrer Vergangenheit eingeholt. Das ist bei Emilia Pérez ebenfalls der Fall. Das Besondere ist jedoch, dass die Hauptfigur bei dem Versuch, alles hinter sich zu lassen, auch das Geschlecht wechselt. Manche werden das für einen bösen Scherz halten oder denken, dass das als Maßnahme etwas übers Ziel hinausschießt. Doch die Titelfigur macht früh klar, dass es hier nicht um die Flucht vor sich selbst geht, sondern darum, endlich man selbst sein dürfen. Audiard verbindet als das typische Krimimotiv mit einem LGBTQIA-Thema, das in den letzten Jahren emotional sehr aufgeladen wurde.
Wild, verrückt und faszinierend
Diese Grenzüberschreitungen setzen sich bei den Genres fort. Anfangs meint man noch, es mit einem Krimi zu tun zu haben. Im Zwischenteil ist der Film mehr ein Drama. Später tritt Audiard noch einmal aufs Gaspedal, die Bezeichnung Thriller passt während dieser Passagen am besten. Und als wäre das noch nicht genug, wird zwischendrin auch immer wieder gesungen, in passenden wie unpassenden Momenten, ein typisches Musical eben. Nur dass nicht viel typisch ist daran. Die Mischung ist auf jeden Fall wild, Emilia Pérez arbeitet zwar mit lauter bekannten Elementen, unterläuft dabei aber auch kontinuierlich Erwartungen. So wie die Protagonistin zwischen mehreren Identitäten hin und her wechselt, ist auch der Film selbst in einem ständigen Wandel begriffen.
Ob es das in der Form gebraucht hätte, darüber kann man sich natürlich streiten. Die Musical-Nummern werden beispielsweise nie gerechtfertigt. Aber sie sind sehens- und hörenswert, tragen dazu bei, dass der Film nicht nur bei der Weltpremiere in Cannes 2024 frenetisch gefeiert wurde. Das Spiel mit den Identitäten ist auch insofern kein bloßes Gimmick, da dies eine der entscheidenden Fragen des Films sind. Können wir uns ändern? Haben wir einen Einfluss darauf, wer wir sind? Wie sehr werden wir durch andere definiert, durch äußere Umstände und Menschen? Wenn die Protagonistin in Emilia Pérez einen Wandel an sich durchführt und zugleich für einen anderen Wandel kämpft, dann auch aus dem Wunsch heraus, selbst über sich bestimmen zu können und darin eine Freiheit zu finden. Und zumindest phasenweise drückt man ihr dabei die Daumen – bis man sich daran erinnert, was sie als er getan hat und vielleicht auch wieder tun wird. Denn eines ist sicher: Wenn uns Audiard auf diese verrückte und faszinierende Reise mitnimmt, ist nichts sicher.
OT: „Emilia Pérez“
Land: Frankreich
Jahr: 2024
Regie: Jacques Audiard
Drehbuch: Jacques Audiard
Vorlage: Boris Razon
Musik: Clément Ducol, Camille
Kamera: Paul Guilhaume
Besetzung: Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Adriana Paz, Édgar Ramirez
Cannes 2024
Toronto International Film Festival 2024
Filmfest Hamburg 2024
San Sebastian 2024
Film Festival Cologne 2024
Französische Filmtage Tübingen-Stuttgart 2024
Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg 2024
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