Richtig harmonisch geht es im Leben von Vova nicht zu. Immer wieder kommt es zu Streitereien innerhalb der Familie, wenn etwa der vorbestrafte Vater (Serhiy Smiyan) mal wieder zu viel getrunken hat. Auch der ältere Bruder (Dmytro Lozovskyi), der zwischenzeitlich als Soldat nach Afghanistan geschickt wurde, zieht Ärger an. Doch es ist Vova selbst, der in der Ukraine der 1990er die kriminelle Laufbahn konsequent verfolgt. Inzwischen zu einem bulligen jungen Mann (Serhii Filimonov) herangewachsen, schreckt er vor nichts und niemandem zurück. Auch als Rhino bekannt, macht er als Verbrecher Karriere, hat dabei auch zahlreiche Menschen auf dem Gewissen. Doch je tiefer er in die Unterwelt hinabsteigt, umso größer sind auch die Verluste, die er zu beklagen hat …
Aufstieg und Fall eines Verbrechers
Normalerweise sind in Filmen Verbrecher und Verbrecherinnen auf der Gegenseite, haben in der Geschichte eine antagonistische Funktion. Es gibt aber auch Beispiele, wo das Publikum die Perspektive der Kriminellen einnimmt. Das trifft vor allem auf Heist Movies zu, bei Werken wie The Instigators oder Ocean’s Eleven sind die Zuschauer und Zuschauerinnen dazu aufgerufen, den Banden die Daumen zu drücken, wenn es gegen schlimmere Verbrecher geht. Aber man findet auch Filme, die oft eher dramatisch angelegt sind und die als Porträt konzipiert sind. Carlito’s Way ist so ein Film, wenn wir einem Gangsterboss folgen, der aussteigen will und dabei in immer größere Probleme gerät. Und auch Rhino geht in eine solche Richtung, wenn im Mittelpunkt der Geschichte ein Krimineller steht.
Anders als der oben genannte Kollege, den wir quasi am Ende seiner Laufbahn kennenlernen, setzt die ukrainisch-deutsch-polnische Coproduktion am Anfang an und behandelt im Schnelldurchlauf, wie aus einem schmächtigen jungen Mann ein Schrank wird, der brutal und skrupellos seine Ziele verfolgt, dabei aber auch einen großen Preis bezahlt. Solche Aufstieg-und-Fall-Geschichten kennt man natürlich zur Genüge, gerade im künstlerischen Bereich sind solche Schicksale gefragt, alternativ bei Sportdramen. Rhino erzählt da grundsätzlich also nichts, was man nicht aus anderen Filmen schon kennt. Weder ist der Protagonist irgendwie ungewöhnlich, noch finden sich in der Dramaturgie Elemente, die tatsächlich überraschen. Das Krimidrama verfolgt zudem keine gesellschaftlichen Ambitionen, hat über die Welt drumherum nicht viel zu sagen. Sicher, der Aufstieg während der großen Änderungen in Osteuropa in den 1990ern spielen eine Rolle. Jedoch nur eine kleine.
Eindrucksvoll umgesetzt
Umgesetzt ist das Ganze aber durchaus gut. Eindruck hinterlässt beispielsweise eine frühe Montagesequenz, in der das Leben des Protagonisten und seines Umfelds zusammengefasst wird. Es gelingt Sentsov, auf kunstvolle Weise den Wandel festzuhalten und zu zeigen, wie sich Vova weiterentwickelt – bis hin zum titelgebenden Nashorn. Was ebenfalls in Erinnerung bleibt, ist die Brutalität. Da sind schon immer wieder Szenen in Rhino, bei denen man als Zuschauer bzw. Zuschauerin zusammenzucken darf. Es hat schon seine Gründe, warum der Film bei der Erstausstrahlung nur einen Platz im Spätprogramm erhalten hat. Dabei wird die Gewalt nicht voyeuristisch eingesetzt, es geht vielmehr darum, die zunehmende Entmenschlichung zu zeigen.
Das ist durchaus sehenswert, zumal Hauptdarsteller Serhii Filimonov als grober Klotz, dem mit zunehmender Macht die Kontrolle entgleitet, auch überzeugend auftritt. Das Krimidrama, welches 2021 in Venedig Weltpremiere hatte, mag keine übermäßig tiefgründige Figur entworfen haben. In Erinnerung bleibt sie aber auch so. Spannend ist zudem die Geschichte drumherum: Sentsov war wegen seines Protests gegen die Annexion der Krim zu zwanzig Jahren Strafgefangenenlager in Russland verurteilt, kam aber vorzeitig durch einen Gefangenenaustausch wieder frei. Erst das erlaubte es ihm, Rhino noch fertigzustellen. Das macht den Film selbst zwar nicht politisch, demonstriert aber die Unnachgiebigkeit, die den Regisseur auch als Erzähler auszeichnet.
OT: „Nosorog“
Land: Ukraine, Deutschland, Polen
Jahr: 2021
Regie: Oleh Sentsov
Drehbuch: Oleh Sentsov
Musik: Andriy Ponomarov
Kamera: Bogumił Godfrejów
Besetzung: Serhii Filimonov, Alina Zevakova, Marija Schtofa, Iryna Mak, Serhiy Smiyan, Dmytro Lozovskyi
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