Es ist nicht der beste Zeitpunkt, den sich Tamara (Anna Starchenko) ausgesucht hat, um bei der Polizeistation vorbeizugehen. Denn die wird gerade von Aufständischen überrannt, die alles und jeden erschießen, dem sie über den Weg laufen. Doch Tamara ist nicht in der Lage, groß über die Situation nachzudenken. In ihrem Kopf ist nur Platz für einen Gedanken: Sie muss ihren Sohn Timka finden, der spurlos verschwunden ist. Dabei läuft sie auch Brajyuk (Berik Aitzhanov) über den Weg, der gerade erst brutal jemanden gefoltert hat bei dem Versuch, an Informationen heranzukommen. Die Fremde interessiert ihn nicht, ebenso wenig ihr Sohn. Und doch lässt er sich darauf ein, ihr bei der Suche zu helfen, da sie für ihn die Möglichkeit bedeutet, heil aus der Situation herauszukommen. Dabei ahnt er noch nicht, wohin ihn diese gemeinsame Reise führen wird …
Ein umkämpftes Land
Kasachstan ist nicht unbedingt als ein großes Filmland bekannt. Selbst wer fleißig Filme schaut, wird überlegen müssen, um überhaupt auf irgendwelche Titel zu kommen. Da war beispielsweise die Horrorkomödie Sweetie, You Won’t Believe It, die vor zwei Jahren bei uns erschienen ist und von Freunden erzählte, deren Angelausflug eine unerwartet blutige Wendung nimmt. Blut gibt es auch bei Steppenwolf nicht zu knapp, einem weiteren Beitrag aus dem zentralasiatischen Land, das seinen Weg nach mehreren Festivalteilnahmen bis zu uns finden wird. Viel Grund zum Lachen bekommt das Publikum aber nicht, das sich hier auf einen düsteren und brutalen Film einstellen muss, der nicht unbedingt Lust darauf macht, das Land einmal selbst zu erkunden – trotz der reizvollen Landschaften.
Wobei nicht genau klar ist, ob der Film ein Kommentar zu der derzeitigen Lage in Kasachstan sein soll oder nicht. Dass die Demokratie dort eher fragil ist, ist kein Geheimnis. Wirklich frei leben kann man dort nicht, weshalb die Darstellung einer durch und durch korrupten Polizei, die zwischendurch auch schon mal Menschen foltert, schon als Gesellschaftskritik verstanden werden kann. Andererseits beschreibt Steppenwolf einen Staat, bei dem offensichtlich ein Bürgerkrieg ausgebrochen ist. Mit Informationen dazu hält sich Regisseur und Drehbuchautor Adilkhan Yerzhanov sehr zurück. Eigentlich weiß man hier überhaupt, was genau abläuft und wer da gegen wen kämpft. Das macht gerade den Einstieg sehr verwirrend, wenn es zu dem Überfall auf die Polizeistation kommt und man keine Ahnung hat, was da genau geschieht.
Böse, surreal und sehenswert
Das mag man dem Filmemacher vorwerfen, zumal er auch im weiteren Verlauf mit Details knausert. Ein paar Infos teilt er dann zwar schon mit den Zuschauern und Zuschauerinnen, auch über den Protagonisten. Ist er am Anfang nur der opportunistische Henker, der im Zweifel alle tötet, bekommt er mit der Zeit mehr Kontur. Es wird aber nie so viel, dass eine interessante Figur daraus wird. Gleiches gilt für die verwirrte Mutter, die sich bei der Suche von allen herumschubsen lässt. Steppenwolf gleicht das aber durch die Besetzung mehr als aus. Sowohl Anna Starchenko als auch Berіk Aitzhanov faszinieren durch ihre jeweiligen Darstellungen, die so grundverschieden sind, als kämen sie aus verschiedenen Welten. Die Kombination aus beidem ist so eigenartig, was zusammen mit dem undurchdringlichen Setting für eine surreale Stimmung sorgt.
Dabei ist die Geschichte selbst maximal simpel. Tamara will ihren Sohn, Brajyuk will Rache – das Ergebnis ist ein hoher Bodycount, wenn die Suche nach dem Hintermann zahlreiche Opfer fordert. Das ist nicht wirklich anders als bei herkömmlichen Rachethrillern. Und doch bleibt Steppenwolf, das beim International Film Festival Rotterdam 2024 Weltpremiere hatte, sehr viel mehr in Erinnerung. Das liegt neben den ungewöhnlichen Figuren auch an der Inszenierung, die gerade bei den Actionszenen zur Hochform aufläuft. Hinzu kommen die kargen Landschaften Kasachstans, die immer wieder eine Westernatmosphäre erzeugen. Fürs Auge wird also so oder so geboten. Wer solche Faktoren zu schätzen weiß und sich nicht an der minimalistischen Geschichte stört, findet hier einen der besseren Genrevertreter der letzten Zeit. Und einen der böseren, wenn da immer wieder Momente dabei sein, die einen ungläubig bis schockiert zurücklassen.
OT: „Дала қасқыры“
Land: Kasachstan
Jahr: 2024
Regie: Adilkhan Yerzhanov
Drehbuch: Adilkhan Yerzhanov
Musik: Galymzhan Moldanazar
Kamera: Yerkinbek Ptyraliyev
Besetzung: Anna Starchenko, Berіk Aitzhanov
International Film Festival Rotterdam 2024
Fantasia Film Festival 2024
Fantasy Filmfest 2024
SLASH Filmfestival 2024
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