Als ehemalige Tanzlehrerin ist Tarlan (Maryam Bobani) eigentlich den schönen Künsten zugewandt. Das bedeutet aber nicht, dass sie ihre Augen vor den hässlichen Dingen verschließt. Und von denen gibt es einige in ihrer Heimat Iran. So setzt sie sich für Lehrkräfte ein, die hinter Gittern sitzen. Auch für ihren Sohn muss sie kämpfen, der schwer verschuldet ist. Die größte Herausforderung ist aber, als sie davon erfährt, dass eine Frau, die ihr nahestand, ermordet wurde. Und nur Tarlan kann gegen das Unrecht angehen, da sich die Polizei nicht für das Thema interessiert …
Porträt des heutigen Irans
Wenn Filme im heutigen Iran spielen, dann kann man sich fast immer sicher sein, dass sie die dortigen Zustände und insbesondere das Regime anklagen – zumindest wenn es Filme sind, die im Westen gezeigt werden. Das kann mal beiläufig geschehen wie etwa bei Ein kleines Stück vom Kuchen, das einen Blick hinter den Schleier des Alltags wirft. Tatami macht daraus ein nervenaufreibendes Thrillerdrama, wenn sich eine iranische Judoka bei der Weltmeisterschaft den Aufstand gegen die Regierung wagt und dabei ein großes Risiko eingeht. Ganz so weit geht es in The Witness nicht. Aber auch dort ist es eine Frau, die es fast im Alleingang mit dem übermächtigen Feind aufnimmt und sich nicht von den Drohungen einschüchtern lässt.
Das Szenario hört sich dabei eigentlich nach Krimi an. Wenn eine ältere Frau Zeugin eines Mordes wird und danach auf eigene Faust agiert, weil die Polizei nicht tätig wird, ist das eine ganz klassische Genresituation. 16 Uhr 50 ab Paddington fällt einem da beispielsweise ein. Dabei geht es jedoch weniger darum, irgendwelche Rätsel zu lösen, es wird relativ schnell klar, was geschehen ist. The Witness befasst sich stattdessen mit der Gesellschaft und den diversen Problemen. Sinnbildlich dafür steht das Haus, in dem die Protagonistin lebt und das von Mäusen überrannt wird. Regelmäßig beschwert sie sich bei dem Vermieter, der aber nicht tätig wird, das vielmehr als völlig natürlich ansieht. Wobei der besagte Vermieter nicht als Gegenspieler etabliert wird, auch wenn das nahelegend wäre. So ist er hilfsbereit, lässt Tarlan seit Monaten kostenlos in der Wohnung wohnen.
Gut gespielt und ambivalent
Regisseur Nader Saeivar und sein Co-Autor Jafar Panahi (Drei Gesichter, Taxi Teheran) versuchen allgemein, mit Ambivalenzen zu arbeiten und ein vielschichtiges Porträt zu erstellen. Natürlich gibt es auch reine Bösewichter, darunter der Mörder. The Witness verweigert sich aber meist einer zu eindeutigen Schwarzweiß-Zeichnung. Das gilt auch für Tarlan selbst, die von Anfang an als engagiert beschrieben wird. Doch je mehr sie den Kampf wagt, umso verzweifelter und fragwürdiger werden die Mittel. Gerade zum Ende hin nimmt das Drama einige überraschende Wendungen. Wobei Saeivar im Gegensatz zu seinen vorherigen Filmen einen versöhnlichen Ton anschlägt, sich nicht völlig dem Pessimismus hingibt. Das Publikum soll etwas beschwingter zurück in den Alltag dürfen.
Diskussionswürdig ist das Finale sicherlich, manche dürften da etwas irritiert reagieren. Unstrittig ist, dass der Film maßgeblich von Maryam Bobani getragen wird. Sie steht auch praktisch die ganze Zeit im Mittelpunkt, wenn sich ihre Figur mit privaten Problemen herumplagt oder sich für andere engagiert. Wenn das Drama, welches 2024 in Venedig Weltpremiere hatte, sehenswert ist, dann ist das auch maßgeblich der Schauspielerin zu verdanken, welche die ganzen Nuancen mit feinem Mienenspiel veranschaulicht. Der Rest des Ensembles fällt da zuweilen etwas ab, aber nicht so sehr, um den positiven Eindruck nennenswert zu schmälern. The Witness ist ein weiterer guter Beitrag, der sich mit dem heutigen Iran auseinandersetzt und offen die dortigen Schwierigkeiten anspricht.
OT: „Shahed“
Land: Deutschland, Österreich
Jahr: 2024
Regie: Nader Saeivar
Drehbuch: Nader Saeivar, Jafar Panahi
Musik: Karwan Marouf
Kamera: Rozbeh Raeigha
Besetzung: Maryam Bobani, Nader Naderpour, Abbas Imani, Ghazal Shojaei
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)