Wir sprechen mit Regisseurin Yasemin Şamdereli über ihren Film "Samia" (© Weltkino, Foto: Theresa Neumann)

Yasemin Samdereli [Interview]

Zur Premiere ihres neuen Films haben wir die Regisseurin Yasemin Samdereli im Rahmen des Filmfests München 2024 kennengelernt. Mit Samia (Kinostart: 19. September 2024) bringt sie die tragische, wahre Geschichte der jungen Somalierin Samia Yusuf Omar, die für ihr Land bei den Olympischen Spielen in Peking angetreten und wenige Jahre später auf der Flucht nach Europa ertrunken ist, auf die Kinoleinwand. Die besonders durch Komödien bekannt gewordene Regisseurin erzählt im Interview über die Beweggründe ihres Genrewechsels und beantwortet zahlreiche weitere Fragen.

Ich muss gestehen, vor der Sichtung des Films und vor meiner Recherche war ich mit der Geschichte Samias gar nicht vertraut. Wie bist du mit dieser Geschichte in Kontakt gekommen und was war dann für dich ausschlaggebend zu sagen: „Wir wollen dieses Projekt verwirklichen und auf die Leinwand bringen“?

Ich kannte sie auch nicht. Als ich 2017 von den italienischen Produzenten kontaktiert wurde, hatte ich noch nicht davon gehört. Giuseppe Catozzella hatte das recherchiert und ihre Schwester Hodan getroffen, die hier in Europa lebt. Und auf Grundlage seiner Gespräche mit Hodan hat er ein Buch geschrieben. Im Jahr 2017 hatten mir das die italienischen Produzenten mitgebracht. Meine Schwester Nesrin, mit der ich oft zusammen schreibe, und ich haben das gelesen und es hat uns sehr tief getroffen.

Wie kann das sein, dass ein 17-jähriges Mädchen 2008 bei den Olympischen Spielen, natürlich als Underdog, teilnimmt und vier Jahre später als Flüchtling im Mittelmeer ertrinkt? Absolut schockierend. Wir wollten unbedingt alles tun, damit ihre Geschichte auch als Film erzählt wird. Das hat natürlich auch viele Fragen aufgeworfen. Ich bin ja keine Somalierin. Ich habe einen muslimischen Hintergrund, also kannte ich viele Dinge. Ich hatte keine Angst, diese Geschichte zu erzählen. Aber natürlich stand die Frage im Raum: Können wir dieser Geschichte gerecht werden, die auch eine gewisse Komplexität hat? Wir brauchten auf jeden Fall die richtigen Partner, die sowohl die künstlerische als auch die kulturelle Seite verstanden.

Wir hatten das große Glück, dass wir diese unglaubliche Familie getroffen haben. Die Osmans, die Deka, die ja meine Sparringpartnerin war, ihre Schwester, ihre Mutter – alle haben dieses Projekt hundertprozentig unterstützt. Dann wurden auch andere Parameter besprochen: Wo gedreht werden sollte und dass auch dieses dramatische, grauenvolle Ende erzählt werden muss. Letztendlich war ich dann an einem Punkt, an dem ich mir zugetraut habe, die Geschichte so zu erzählen, dass ich ihr und dem Kulturellen hoffentlich gerecht werde.

Samia
Die somalische Läuferin Samia (Ilham Mohamed Osman) bei den Olympischen Spielen (© Weltkino Filmverleih)

Haben die Dreharbeiten in Somalia stattgefunden? Mit einem ortsansässigen Cast? Das ist ja unter den derzeitigen Umständen quasi unmöglich.

Absolut. Mit der Auseinandersetzung kam relativ bald die Erkenntnis: Da drehen können wir nicht. Das geht einfach nicht. Dann stellte sich natürlich die Frage: Wo drehen wir das und wie drehen wir das? Und wie finden wir die Darsteller? Die Schauspieler müssen ja alle Somalier sein. Mit Deka an meiner Seite fing dann dieser ganze Prozess an. Dann kamen wir auf Kenia. Kenia hat eine relativ stabile und große Filmindustrie und eben auch somalische Diaspora. Da war klar, es ist nah dran, da können wir es drehen.

Deswegen war es auch so wichtig, erfahrene Menschen dabei zu haben. Unser Kameramann war großartig. Wir haben überlegt, wie wir den Schauspielern möglichst viel Freiheit lassen konnten. Es waren ja oft Menschen, die das erste Mal vor der Kamera standen. Florian Berutti, mit dem ich davor noch nicht zusammengearbeitet hatte, war ein Segen. Er hat ohne Steadycam Systeme gefunden, die so gut und so stabil waren, dass er mit den Kindern vorwegrennen konnte. Sein Umgang mit den Schauspielern war so eng und familiär, dass sie wirklich unverkrampft und frei vor der Kamera agierten. Das war uns sehr wichtig.

Deine bisherigen Arbeiten waren ja hauptsächlich Komödien. Hat diese Geschichte dich dann so inspiriert, dass du dafür einen radikalen Genrewechsel gemacht hast? Oder hattest du im Vorfeld schon geplant, vielleicht mal was anderes zu machen? Und wie schwer war diese Adaption dann, da Komödie und Drama doch relativ weit auseinanderliegen?

Das Tolle beim Filmemachen oder beim Geschichtenerzählen ist ja, dass man das wirklich von Projekt zu Projekt neu angeht. Ich bin da total offen. In erster Linie geht es immer darum, für welche Geschichte du gerade brennst und diese wirklich große Leidenschaft hast. Denn die braucht man für diese langen Projekte. Ich habe immer Respekt vor den Projekten. Ich hatte auch große Ängste beim Dokumentarfilm, aber das Tolle ist ja, dass es dich auch pusht. Ich könnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, als nur das zu machen, was man schon kann. Aber in Deutschland ist es nicht leicht, weil alle wollen, dass man einfach immer nur wiederholt, was man davor gemacht hat.

Das glaube ich. Natürlich ist die Finanzierungsfrage und die Filmförderung in Deutschland ein dauerhaft präsentes Thema. Wie schwer war es denn, eine Finanzierung zu finden, zumindest über deutsche Institutionen?

Sehr schwer. Aber nicht wegen der Förderer. Für alle meine Filme habe ich immer Support von den Förderern bekommen. Kein einziger meiner Filme wurde im Vorfeld von einem Sender unterstützt. Hinterher kaufen sie dann die Filme, aber vorher gibt es alle möglichen Erklärungen, warum das nicht passt, und das ist frustrierend. Deutsches Fernsehen ist ein riesiges Fragezeichen für mich, weil ich mir immer denke: wieso? Dabei muss man sagen, dass wir fast das doppelte Budget der BBC haben. Also hat Deutschland enorm viel Geld. Da stellt sich natürlich die Frage, wo dieses Geld ist und wohin es fließt. Ich möchte jetzt nicht egoistisch klingen, aber ich habe dann Auftragsarbeiten fürs Fernsehen gemacht. Aber das sind eben Auftragsarbeiten. Da wird klar vorgegeben, was gewollt ist, mit wenig Raum für Kreativität, und das finde ich tragisch. Aber von den Förderern kommt immer Support, für jedes dieser Projekte

Du hast vorhin schon erwähnt, dass das Buch zusammen mit Samias Schwester geschrieben wurde oder sie zumindest gefragt wurde. Gab es auch hier die Möglichkeit, den Film Samias Familie zu zeigen?

Noch nicht. Aber sie wissen, dass es den Film gibt. Wir hatten von Anfang an Suad mit dabei, eine tolle Frau, die ganz toll in der somalischen Community connected ist. Sie ist nach Mogadischu gereist und hat dort für uns die Familie gefunden, ihren Segen eingeholt und auch vertraglich geregelt, dass sie an diesem Projekt partizipieren. Ich hoffe, dass wir uns den Film bald alle gemeinsam anschauen können und wir dann Live-Feedback bekommen.

Basierend auf der wahren Geschichte von Samia Yusuf Omar hat Giuseppe Catozzella sein Buch Never Say You Are Afraid geschrieben, das ja gewissermaßen als Vorlage für deinen Film dient. Inwiefern weichst du von der wahren Geschichte ab und wie schwierig ist der Entscheidungsprozess, welche Teile dieser Geschichte gekürzt oder verändert werden sollen?

Dass es Veränderungen geben muss, war relativ früh klar. Denn das ist ein Leben, auch wenn es leider ein tragisch kurzes Leben war. Aber wie will man ein Leben in 100 Minuten packen? Auch wenn wir Samia nicht gerecht werden können, verstehe ich diesen Film auch als Denkmal. Wir wollten ihr Leben feiern, und wir wollten feiern, was diese Frau mit ihren 21 Jahren erreicht hat. Wie viele Menschen sie durch ihren Lauf und dadurch, dass sie gesehen wurde, erreichen konnte. Wir wollten in erster Linie versuchen zu sagen: Sie war da. Es ist wichtig, dass viele Menschen das mitbekommen, denn sie steht natürlich exemplarisch für etwas viel Größeres.

Vor allem in Bezug auf die aktuelle Situation und das Erstarken konservativer oder rechtsgerichteter Parteien in Europa, für wie wichtig hältst du einen Film wie diesen, um den Menschen vor Augen zu führen, gegen welche Widrigkeiten Menschen in Somalia – auch stellvertretend für andere Teile der Welt – tagtäglich zu kämpfen haben, um ihre Träume zu erreichen und dann oft tragischerweise zu scheitern?

Ganz wichtig und ich finde es auch total wichtig, politisch zu sein. Deswegen ärgert es mich auch, wenn der Sender nicht mitzieht. Ich denke mir, das ist doch genau unsere Aufgabe. Natürlich muss nicht jeder Film politisch sein, aber es geht darum zu sagen, dass es das Recht jedes Menschen auf diesem Planeten ist, sicher, unversehrt und eine Perspektive zu haben. Darum geht es in diesem Film und ich hoffe, dass die Menschen ihn einfach anschauen und dass es sie im Herzen erreicht. Im Herzen weiß, glaube ich, jeder Mensch was richtig und was falsch ist. Jeder Mensch weiß, dass es keinen Unterschied gibt. Niemand sollte diese Wege gehen müssen.

Vielen Dank für das Interview und hoffentlich bis bald!



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