Die 23-jährige Ani (Mikey Madison) verdient sich ihr Geld als Stripperin in einem Club in New York City. Dabei kommt ihr nicht nur ihr gutes Aussehen zugute. Auch die Russischkenntnisse sind sehr nützlich, haben sie doch sehr viel russische Klientel. Zu dieser zählt auch Vanya (Mark Eydelshteyn), der als Sohn eines mächtigen russischen Oligarchen nach Belieben mit Geld um sich werfen kann. Der ist hin und weg von der selbstbewussten, zwei Jahre älteren Frau, bestellt sie immer wieder zu sich, um gegen Geld Sex mit ihm zu haben. Doch Vanya will mehr als das: Er überredet sie dazu, eine Woche nur für ihn zur Verfügung zu stehen und sich als seine Freundin auszugeben. Dieses Angebot lässt sich Ani nicht entgehen, die beiden haben auch jede Menge Spaß, ziehen von einer Party zur anderen. Als die zwei spontan entscheiden, in Las Vegas zu heiraten, überschreiten sie aber eine Grenze, was die Familie des Liebestollen nicht akzeptieren will …
Eine Sexarbeiterin und der Traum, Prinzessin zu werden
In den Filmen von Sean Baker spielt Sex immer wieder eine große Rolle. So erzählte er in Starlet (2012) und Red Rocket (2021) jeweils von Menschen, die in der Pornoindustrie arbeiten. In Tangerine L.A. (2015) stand eine transgeschlechtliche Prostituierte im Mittelpunkt. Und selbst in The Florida Project (2017), das den Mikrokosmos eines Motels in der Nähe von Disney World beschrieb, gab es eine Frau, die der Sexarbeit nachging. Insofern verwunderte es dann auch nicht wirklich, dass sein neuester Film Anora ebenfalls dieses Thema aufgreift. Dieses Mal erzählt er aus dem Leben einer Stripperin, die für Geld auch schon mal ein bisschen mehr macht, als sich auf den Schoß zu setzen. Eine Frau, die weiß, wie sie ihren Körper einzusetzen hat, um auf diese Weise an ihr Ziel zu kommen.
Dabei ist es erneut gar nicht so sehr die Sexarbeit an sich, von der Baker erzählt. Vielmehr interessiert er sich für die Menschen, die in diesem Bereich tätig sind. Wer sind sie? Was treibt sie an? Bei der Titelfigur von Anora, die nur Ani genannt werden möchte, dauert es eine Weile, bis wir sie näher kennenlernen. So gibt sie sich im Hinblick auf ihre Kleidung natürlich sehr offenherzig. Sie spricht aber nicht so gern über sich und ihren Hintergrund. Aus gutem Grund: Sie will das ja alles hinter sich lassen. Die Arbeit ist ein Mittel zum Zweck, ihr Herz hängt nicht daran. Ihre Herkunft verschweigt sie, will nicht über die Familie reden. Dass sie ihren Namen abändert, zeigt symbolisch, wie sie mit ihrer Vergangenheit zu brechen versucht. Stattdessen träumt sie von einem Leben im Luxus, möchte eine Prinzessin sein – selbst wenn sie sich wenig prinzessinnenhaft verhält. Allein schon ihre unflätige Sprache verdeutlicht den Kontrast zwischen Traum und Wirklichkeit.
Wunderbarer und zutiefst menschlicher Film
Letztendlich geht es in dem Film dann auch maßgeblich darum, wie sich zwei Menschen in einem Traum verlieren, ohne wirklich zu merken, was da geschieht. Zunächst gleicht Anora einem Rausch, wenn sich das Paar von einer Party in die nächste stürzt. Das viele Geld des Papas macht das möglich. Wer braucht schon Realität, wenn andere alles bezahlen? Diese längere Passage ist etwas anstrengend. Dafür wird es im Anschluss um so lustiger, wenn Toros (Karren Karagulian), Garnick (Vache Tovmasyan) und Igor (Yura Borisov) hinzukommen, die für die Familie den Dreck wegräumen sollen, sich aber an der renitenten jungen Frau die Zähne ausbeißen und selbst gebissen werden. Auch hier prallen Welten aufeinander, die kaum miteinander zu vereinen sind. Die Figuren stolpern von einem Chaos ins nächste, sehr zur Freude des Publikums, das hier einen Heidenspaß haben darf.
Dabei übersieht man dann auch, dass Anora, das bei den Filmfestspielen von Cannes 2024 Weltpremiere hatte und dort den Hauptpreis der Goldenen Palme erhielt, durchaus ernste Themen hat. So ist es eigentlich tragisch, wie die krakeelende Stripperin sich an einem Traum festkrallt, bei dem das Publikum längst weiß, dass es nur ein Traum ist. Zum Ende hin packt Baker dann auch noch mal einen Hammer aus, wenn er hinter die schrille und grelle Fassade blickt und der Film auf einmal eine emotionale Wucht entwickelt, die er zuvor ein wenig kaschierte. Es dauert zwar alles recht lang, gerade der anstrengende Einstieg hätte kürzer ausfallen dürfen. Doch insgesamt ist Baker ein weiterer wunderbarer Film gelungen, mit dem er seine Nische erfolgreich verteidigt und zeigt, dass er wie niemand sonst das Menschliche hinter der Ware Mensch sieht und diesem mit viel Wärme begegnet – selbst wenn es drumherum bitterkalt geworden ist.
OT: „Anora“
Land: USA
Jahr: 2024
Regie: Sean Baker
Drehbuch: Sean Baker
Musik: Matthew Hearon-Smith
Kamera: Drew Daniels
Besetzung: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yura Borisov, Karren Karagulian, Vache Tovmasyan
Cannes 2024
Telluride Film Festival 2024
Toronto International Film Festival 2024
Filmfest Hamburg 2024
San Sebastian 2024
Zurich Film Festival 2024
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