Geht es um das Surreale im Film, führt kein Weg am Spanier Luis Buñuel vorbei. Sein stummer Kurzfilm Ein andalusischer Hund, gemeinsam geschrieben mit dem Künstler Salvador Dalí, wurde 1929 zu einem Manifest und Meilenstein der Filmgeschichte. Wie sich das Unbewusste auf der großen Leinwand Bahn bricht, war bis dahin niemals in derartiger Radikalität gezeigt worden. Auch in Buñuels späteren, weniger experimentellen Filmen zeigt sich die Begeisterung für das Irrationale, Mehrdeutige, Unerklärbare. Woher das kommt und wie sich unterschiedliche Motive und Obsessionen wiederholen und abwandeln, zeigt mit bewundernswerter Sachkenntnis der Dokumentarfilm von Buñuels Landmann Javier Espada.
Tiefer Glaube an Wunder
„Das Leben entfaltete sich horizontal und eintönig“, schreibt der im Jahr 1900 geborene Buñuel über seine Heimatstadt Calanda Anfang des 20. Jahrhunderts. Trommelprozessionen, Wunderglaube, der allgegenwärtige Tod – das hat sich tief ins Bewusstsein des Kindes eingegraben. Etwa die Geschichte vom gottesfürchtigen Mann, dem nach einem Unfall ein Bein amputiert werden muss. Jeden Tag geht er in die Kirche, salbt den Stumpf mit dem Öl der Heiligen Jungfrau ein. Und dann, eines Nachts, steigt Maria vom Himmel herab und bringt ihm ein neues Bein. Ein Heiligenbild zeigt, wie sie es anlegt. „Unser Glaube war blind, wir glaubten an die Echtheit des Wunders“, kommentiert der Sprecher aus dem Off, der aus Buñuels Autobiografie Mein letzter Seufzer zitiert. Schnitt: Die unglückliche Ehefrau Tristana aus dem gleichnamigen Film von 1970 humpelt auf Krücken durch einen Flur. Auch ihr musste ein Bein amputiert werden. Die Szene ist eine der vielen staunenswerten Beispiele, wie prägende Motive der Kindheit in Buñuels Schaffen fortwirken.
Aus dem tiefsten Mittelalter an die Spitze der künstlerischen Avantgarde: Man begreift leicht, welche Befreiung es für den 25-Jährigen sein musste, als er während seiner Schauspielausbildung in Paris erstmals mit den Surrealisten in Kontakt kam. Also mit einer antibürgerlichen, revolutionären Gruppe, die sämtliche Konventionen über den Haufen warf und vor allem eins wollte: provozieren. Hatte der Katholizismus mit seiner unbarmherzigen Unterdrückung der Sexualität dem jungen Buñuel noch tiefe Schuldgefühle eingepflanzt, so galten nun die Instinkte und Begierden, das Geträumte und Unbewusste als Maß aller Dinge. Jegliche Selbstzensur durch das Ich galt als Übel, die Fantasie sollte frei fließen. Für den Andalusischen Hund fügten Buñuel und Dalí zwei Träume zusammen, indem sie nach der Methode des automatischen Schreibens spontan aufkommende Gedankenfetzen aneinanderreihten.
Dokumentarfilmer Javier Espada lässt immer wieder Stationen aus Buñuels bewegtem Leben Revue passieren, legt aber keine lückenlose Biografie vor. Sein Interesse gilt, wie der Filmtitel schon sagt, dem Einfluss des Surrealismus. Und zwar nicht nur in der kurzen Periode, als Buñuel in die Gruppe von André Breton aufgenommen wurde, des Urvaters und Theoretikers dieser Kunstrichtung. Sondern auch danach, als er sich sozialen Themen zuwandte (Die Vergessenen, 1950), oder in der französischen Periode, als er mit dem Drehbuchautor Jean-Claude Carrière zusammenarbeitete, erstmals in Belle de jour – Schöne des Tages (1967). Mit zahlreichen Filmausschnitten weist Javier Espada nach, wie sich wiederkehrende Obsessionen, Traumata und Neigungen durch das Schaffen des rastlosen Regisseurs ziehen, der zeitweise mehrere Filme pro Jahr fertigstellte. Der Dokumentarfilmer beherrscht diesen Stoff souverän, denn er beschäftigt sich fast sein ganzes Leben mit dem Mann, der aus derselben Stadt stammt wie er selbst. Espada hat zahlreiche Ausstellungen zu Buñuel kuratiert, 16 Jahre das Buñuel-Museum geleitet und auch bereits andere Dokumentationen über Aspekte seines Werks gedreht.
Mit neuen Augen
Zu den faszinierenden Aspekten von Buñuel: Filmemacher des Surrealismus gehören die anschaulichen Filmausschnitte, die die zentralen Thesen von Espada belegen: den Einfluss von Kindheit und Katholizismus, die Rolle der Sexualität und den unbedingten Willen, sich von seinen Instinkten und Obsessionen leiten zu lassen. Gefühlt 70 bis 80 Prozent der Dokumentation bestehen aus Filmzitaten, die dem Protagonisten zwar nicht seine Rätsel nehmen wollen, aber sehr viel Licht werfen auf die Kräfte, die ihn antrieben – und so seine Filme mit neuen Augen sehen lassen.
Kehrseite des Kenntnisreichtums ist jedoch der wissenschaftlich unterfütterte Ansatz, mit dem Regisseur Javier Espada seine Beweise führt und seine Belege sammelt. Dabei verfällt er einem Anspruch auf Vollständigkeit und trägt eine Materialfülle zusammen, die zuweilen erschlägt. Statt Mut zur Lücke zu zeigen, häuft der Film Beispiel auf Beispiel und verzichtet auf Passagen, die dem Publikum Raum zum Nachsinnen lassen würden. Trotzdem bleibt das große Verdienst, an den etwas in Vergessenheit geratenen Urvater des filmischen Surrealismus zu erinnern. Und Lust zu machen, seine bahnbrechenden Werke neu und wieder zu schauen.
OT: „Buñuel, un cineasta surrealista“
Land: Spanien
Jahr: 2021
Regie: Javier Espada
Drehbuch: Javier Espada
Musik: Luis Eduardo Aute, Alfonso de Lucas Buñuel, Javier Espada
Kamera: Ignacio Fernando
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