Polen im Winter 1943. Der Holzfäller und seine Frau führen ein bescheidenes, ruhiges Leben inmitten des Waldes. Das ändert sich, als sie nahe den Bahngleisen ein Baby im Schnee findet und spontan mit nach Hause nimmt. Ihr Mann ist alles andere als begeistert. Zum einen haben sie auch so schon kaum genug, um sich zu ernähren. Außerdem ist das Kind von den Herzlosen, wie die Juden in der Gegend genannt werden. Tatsächlich wurde es vom Vater aus dem Zug geworfen, der die Familie nach Auschwitz bringen sollte. Doch der Holzfällerin ist das alles egal. Sie ist fest entschlossen, dem Mädchen ein Zuhause zu geben, koste es, was es wolle. Aber der Preis hierfür ist hoch …
Holocaust-Drama als Animationsfilm
Man kann Michel Hazanavicius eigentlich nicht vorwerfen, dass er immer wieder dieselben Filme dreht. Weltweit bekannt wurde der französische Regisseur natürlich durch seine Stummfilm-Hommage The Artist, die ihm einen Oscar für die beste Regie einbrachte und auch an den Kinokassen ein großer Erfolg wurde. In den letzten Jahren drehte er unter anderem die Agentenparodie OSS 117: Liebesgrüße aus Afrika und die Zombiekomödie Final Cut of the Dead. Dennoch dürften sich nicht wenige über den neuesten Streich des Filmemachers gewundert haben. Ein Drama über den Holocaust? Und das auch noch in Form eines Animationsfilms? Das kam unerwartet, Das kostbarste aller Güter sticht in der Filmografie von Hazanavicius schon sehr hervor.
Vorlage hierfür lieferte der gleichnamige Roman des Autors Jean-Claude Grumberg, der auch an der Drehbuchadaption mitgewirkt hat, ansonsten aber eher im Theater tätig ist. Er gibt der Geschichte etwas Märchenhaftes mit, geradezu zu Beginn wirkt der Film so, als habe er uns mit in einen verwunschenen Wald genommen. Tatsächlich ist das Ehepaar zwar einer harschen Realität ausgesetzt, wenn es in bitterer Armut lebt, so wie die meisten in der Gegend. Und doch wirkt es seltsam behütet. Der Krieg ist in Das kostbarste aller Güter weit weg, vom Holocaust weiß man nichts. Über die Juden wird geschimpft, wenn sie in den Zügen vorbeifahren, ohne dass der heimischen Bevölkerung bewusst ist, dass sie gerade auf dem Weg in den Tod sind. Es gibt keine Anknüpfungspunkte, aber auch kein Interesse an einer Auseinandersetzung.
Bewegend mit schöner Optik
Die findet auch nur im begrenzten Maße statt. Zwar muss der alte Holzfäller erkennen, dass das Mädchen sehr wohl ein Herz hat, liebenswürdig ist und Schutz verdient. Das führt aber zu keiner Grundsatzdebatte. Das kostbarste aller Güter ist näher an den Menschen dran als an abstrakten Ideen. Die verschiedenen Figuren, die dem Mädchen helfen, tun das, weil sie ähnlich zu White Bird mit diesem direkt zu tun haben und ihr eigenes Herz entdecken, es als eine Pflicht empfinden, einem konkreten Menschen in Not zu helfen. Zu politischen Widerständlern werden sie nicht. Das müssen sie aber auch nicht. Das Drama betont das Menschliche und die Bedeutung von Mitgefühl. Der Film zielt damit auch auf die Herzen des Publikums. Es ist rührend, wie alte, grimmige Männer auf einmal für ein Kind einstehen, wie immer bei solchen Filmen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es sich hierbei um eine kitschige Wohlfühlgeschichte handelt. Da kommen einige sehr bittere Momente.
Interessant ist, dass es hier nicht die eine Hauptfigur gibt, im Laufe des Films wird mehrfach gewechselt. Dadurch bleibt einiges nur skizzenhaft, vor allem das Finale fällt schon recht kurz aus. Dennoch ist der Film, der 2024 im Wettbewerb von Cannes Weltpremiere hatte, sehenswert. In Zeiten, in denen viele Menschen auf Abgrenzung beharren und Unterschiede hochstilisieren, ist Das kostbarste aller Güter eine wohltuende Erinnerung an das Verbindende. Hinzu kommt eine sehr schöne Optik. Die stimmungsvollen Bilder, die oftmals an Graphic Novels erinnern, sind realistisch gehalten und tragen doch zu der besagten leicht märchenhaften Stimmung bei. Das Werk ist gerade auch hierzulande eine Bereicherung fürs Kino, um den nach wie vor vorherrschenden Vorurteilen gegenüber Animationsfilmen etwas entgegenzusetzen. Der erste Ausflug von Hazanavicius in dieses ungewohnte Terrain ist so gelungen, dass es hoffentlich nicht der letzte sein wird.
OT: „La Plus précieuse des marchandises“
IT: „The Most Precious of Cargoes“
Land: Frankreich, Belgien
Jahr: 2024
Regie: Michel Hazanavicius
Drehbuch: Michel Hazanavicius, Jean-Claude Grumberg
Vorlage: Jean-Claude Grumberg
Musik: Alexandre Desplat
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