Richtig große Lust hat Sylvia (Jessica Chastain) ja nicht auf das Ehemaligentreffen ihrer High-School. Doch die alleinerziehende Mutter, die mit ihrer früheren Alkoholsucht zu kämpfen hat, lässt sich darauf ein und geht mit ihrer jüngeren Schwester Olivia (Merritt Wever) hin. Dort macht sie eine eigenartige Erfahrung: Ein ihr unbekannter Mann (Peter Sarsgaard) lächelt sie an und folgt ihr später bis nach Hause. Als sie ihn am nächsten Tag schlafend vorfindet, erfährt sie, dass sein Name Saul ist, und kontaktiert seinen Bruder Saul (Josh Charles). Der verrät ihm, dass Saul an einer frühen Form von Demenz leidet und immer wieder die Orientierung verliert. Anschließend werden die beiden sich noch häufiger treffen, was für Sylvia der Anlass wird, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit zu beschäftigen …
Zwischen Liebe und Vergessen
Zwar kann man Michel Franco nicht vorwerfen, dass er immer dieselben Geschichten erzählt. Auf eines kann man sich bei dem mexikanischen Regisseur und Drehbuchautor aber immer einstellen: Es wird unangenehm und kontrovers. In New Order – Die neue Weltordnung erzählte er von High-Society-Party und einer sozialen Ungleichheit, die auf unheimliche Weise diskutiert. Auch Sundown – Geheimnisse in Acapulco beginnt mit einem fröhlichen Beisammensein, diesmal leisteten wir einer Familie bei einem gemeinsamen Urlaub Gesellschaft, bevor auf einmal alles in Frage gestellt wird. Insofern wundert es einen nicht sonderlich, wenn auch in seinem neuesten Werk Memory ein Abgrund hinter der Fassade enthüllt wird. Mit einem Ehemaligentreffen geht es los, bevor die eigentliche Geschichte beginnt.
Dabei schlägt Franco, der erneut das Drehbuch verfasst hat, diverse Haken. Der erste ist, dass es sich bei dem Film nicht um einen Thriller handelt, auch wenn die vermeintliche Stalkingszene das vermuten lässt. Stattdessen handelt es sich bei Memory um ein Drama, das von alten Wunden und einer neuen Liebe erzählt. Nur wird bei Franco erwartungsgemäß kein kitschiges Herzschmerzdrama daraus. Es ist ja nicht einmal sicher, ob die Beziehung hier etwas Positives ist oder nicht. Das Umfeld steht der Sache negativ gegenüber. Aber auch das Publikum darf sich unsicher sein, wenn eine Frau, die ein altes Trauma vergessen will, ausgerechnet mit einem Mann zusammenkommt, der sich an nichts erinnern kann. Ist das echte Zuneigung oder das Ausnutzen einer Situation? Ist es von seiner Seite aus Liebe, wenn er oft nicht einmal sagen kann, wo er ist oder warum er etwas tut?
Ein Drama voller Fragen
Diese und weitere Fragen kommen während der zwei Stunden auf, ohne dass einem der Filmemacher wirkliche Antworten darauf geben würde. Gleiches gilt auch für das besagte Trauma der Protagonistin. So erfahren wir früh, dass sie meint, sich an Saul aus Schulzeiten zu erinnern, was sich aber als Irrtum herausstellt. Auf diese Weise werden auch andere Erinnerungen von Sylvia infrage gestellt. Ganz sicher ist es nie, ob die Szenen, die ihr das eigene Gedächtnis vorgibt, der Realität entsprechen, ob sie sich etwas eingebildet oder vielleicht gar ausgedacht hat, wie ihr an einer Stelle vorgeworfen wird. Memory handelt vom Erinnern und Vergessen, vom Verdrängen wie vom Versuch, das Verschwundene wieder sichtbar zu machen. Gerade Letzteres führt zu einigen sehr harten Szenen, bei dem die Zuschauer und Zuschauerinnen ordentlich schlucken dürfen.
Und doch schlachtet Franco das Ganze nicht aus. Er lässt die Szenen für sich sprechen, mit viel Distanz, geradezu gleichgültig. Seine Figuren sind auf ihre Weise verloren, finden einen Halt, der aber ebenso trügerisch sein kann wie die Erinnerungen und die Bilder, die sie voneinander haben. Das Glück ist flüchtig und oft ambivalent. Das Ergebnis ist wieder einmal sehenswert. Memory, das 2023 im Wettbewerb von Venedig Weltpremiere hatte, ist ein nuanciert gespieltes Drama, das einen oft hilflos wie ratlos zurücklässt, während die Figuren von einer gemeinsamen Zukunft träumen, die keine sein wird, verfolgt von einer Vergangenheit, die vielleicht niemals war.
OT: „Memory“
Land: USA, Mexiko
Jahr: 2023
Regie: Michel Franco
Drehbuch: Michel Franco
Kamera: Yves Cape
Besetzung: Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Brooke Timber, Merritt Wever, Elsie Fisher, Jessica Harper, Josh Charles
Venedig 2023
Toronto International Film Festival 2023
Zurich Film Festival 2023
Filmfest München 2024
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)