Cold Case: Wer ermordete JonBenét Ramsey?

Bei Netflix legt man es derzeit offensichtlich darauf an, das eigene Publikum zu schockieren. Zumindest im Dokumentationsbereich kamen in kurzer Folge mehrere Titel heraus, die den Zuschauern und Zuschauerinnen einiges zumuten. Los ging es mit Buy Now: The Shopping Conspiracy, welches über die miesen Machenschaften von Unternehmen informiert, wenn diese zu Käufen animieren wollen. 900 Tage ohne Anabel wiederum erinnert an einen Kriminalfall, der in Spanien Medien und Menschen beschäftigte, als eine Frau entführt und jahrelang vergeblich gesucht wurde. Nun gibt es kurz drauf mit Cold Case: Wer ermordete JonBenét Ramsey? eine weitere True-Crime-Doku, bei der einem das Grauen kommt – und das in mehr als einer Hinsicht.

Ein rätselhafter Fall

Der Titel nimmt dabei vorweg, um welches Verbrechen es sich handelt. Zwar sieht es zunächst danach aus, als handele es sich um eine Entführung, als John und Pat Ramsey am Morgen des 26. Dezembers 1996 aufwachen und ihre Tochter JonBenét Ramsey verschwunden ist. Schließlich finden sie einen erschütternden Erpresserbrief mit einer Lösegeldforderung. Doch es kommt noch schlimmer, als kurze Zeit später die Leiche im Keller des Hauses gefunden wurde. Jemand hatte das gerade einmal sechs Jahre alte Mädchen sexuell missbraucht und getötet. Cold Case: Wer ermordete JonBenét Ramsey? packt also ein Verbrechen aus, wie es schlimmer kaum sein könnte. Es dürfte zumindest wenig geben, das derart starke Reaktionen bei Menschen auslöst wie die Vorstellung, dass ein kleines Kind zum Opfer wurde.

Der Titel nimmt aber noch etwas anderes vorweg: Es handelt sich um einen Cold Case, also einen unaufgeklärten Fall. Wer von einer True-Crime-Doku eine Erklärung erwartet, braucht es hiermit erst gar nicht zu versuchen. Es ist auch nicht so, als würde Cold Case: Wer ermordete JonBenét Ramsey? dem Fall neue Aspekte abgewonnen, frische Erkenntnisse bleiben aus. Stattdessen sammelt der in dem Segment erfahrene Regisseur Joe Berlinger (Jeffrey Dahmer: Selbstporträt eines Serienmörders, Ermordet: Tatort Times Square) die Tatsachen und macht daraus eine zwar wenig ambitionierte, aber sauber umgesetzte Serie, die auf die verschiedenen Theorien und Ereignisse eingeht. Anstatt wie bei Hier spricht Zodiac neulich, einer weiteren Produktion rund um ungeklärte Morde, eine bestimmte Hypothese ausführlicher zu besprechen, wird hier ein Rundblick geboten.

Viel Stoff zum Spekulieren

Dabei werden gerade auch die Eltern ausführlicher beleuchtet, die lange im Verdacht standen, die Tat selbst begangen zu haben. Das hängt jedoch weniger damit zusammen, dass man eine plausible Erklärung hatte. Vielmehr wurde etwas schlampig gearbeitet, die Polizei war von der Geschichte überfordert. Wie bei diversen anderen True-Crime-Dokus auch ist das hier schon eine Kritik an den Ermittlungen, selbst wenn das nie so formuliert wird. Wobei auch die Eltern selbst in Cold Case: Wer ermordete JonBenét Ramsey? keinen besonders guten Eindruck machen. Vor allem die Szenen rund um die Schönheitswettbewerbe, wenn das Kind auf fast schon verstörende Weise zurechtgemacht wurde, hinterlassen ein unangenehmes Gefühl – wobei es bei den anderen Kindern nicht besser aussieht. Auch in der Hinsicht wird also kritisiert, ohne dass der Regisseur dies selbst tun müsste.

Letzten Endes richtet sich die Serie ohnehin an ein Publikum, das selbst gern spekuliert. Schließlich haben das viele schon getan, in den Medien, privat oder in Filmen. Mehrfach schon wurde der Stoff adaptiert, weitere Produktionen sollen in Arbeit sein. Das wirft natürlich die Frage auf, ob es Cold Case: Wer ermordete JonBenét Ramsey? unbedingt gebraucht hätte. Die Antwort ist nicht ganz einfach. Zumindest Zuschauer und Zuschauerinnen, die diese Geschichte bereits kennen, können sich die Serie eher sparen. Neulinge bekommen hingegen einen guten Überblick und erhalten im Anschluss die Möglichkeit, sich an den Diskussionen zu beteiligen, die wohl nie ein Ende finden werden – so wie die Ermittlungen nie zu einem greifbaren Ergebnis führten.