Als Dirigent hat es Thibaut Desormeaux (Benjamin Lavernhe) weit gebracht: Er reist umher, gibt auf der ganzen Welt Konzerte, sein Orchester ist gefragt. Als er eines Tages während einer Probe zusammenklappt, erhält er jedoch eine niederschmetternde Nachricht: Leukämie. Seine einzige Chance ist eine Transfusion von Knochenmark. Dabei hofft er auf seine Schwester Rose (Mathilde Courcol-Rozès), bis er die nächste Hiobsbotschaft erhält. Rose ist gar nicht seine Schwester. Genauer wurde Thibaut seinerzeit adoptiert, was ihm aber bis heute niemand sagte. Und als wäre das nicht genug, gibt es offensichtlich noch einen Bruder, von dem er ebenfalls nichts wusste. Die erste Begegnung mit Jimmy Lecoq (Pierre Lottin), der in einer Fabrikkantine arbeitet, verläuft ziemlich holprig, beide wissen nicht wirklich, wie sie sich zu verhalten haben. Doch dann entdecken sie ihre gemeinsame Liebe zur Musik …
Erstaunlich wenig vorhersehbar
Mit gefühlvollen Geschichten und Menschen in schwierigen Situationen kennt sich Emmanuel Courcol aus, seine bisherigen Filme sind davon geprägt. So er zählte er in seinem Debüt Ceasefire von zwei Brüdern, die vom Krieg traumatisiert sind und wieder den Weg zurück ins Leben suchen. Bekanntheit erlangte der Regisseur und Drehbuchautor später durch Ein Triumph, bei dem er die auf einem wahren Vorfall basierende Geschichte einer Theatergruppe in einem Gefängnis teilte. Mit Die leisen und die großen Töne folgt nun sein dritter Kinofilm, der wie eine Mischung aus den beiden oberen Werken wirkt. Erneut geht es um die Beziehung von zwei Brüdern, die einiges aufzuarbeiten haben. Erneut werden künstlerische Tätigkeiten zu einem Bindeglied, das sehr unterschiedliche Menschen zusammenbringt.
Wobei diese Annäherung mit zahlreichen Wendungen einhergeht. Tatsächlich ist Die leisen und die großen Töne ein Film, der gerade auch im Vergleich zu Courcols vergangenem Werk erstaunlich wenig vorhersehbar ist. Schon der Einstieg gestaltet sich turbulent. In kurzer Folge zu erfahren, dass man schwerkrank und adoptiert ist, das ist ein bisschen viel. Auch danach geht es rasant weiter. Die Suche nach der Ersatzfamilie ist sofort abgeschlossen. Eigentlich sollte man auch meinen, dass zwei Menschen, die aus so unterschiedlichen Kreisen stammen, gar nicht miteinander können und es zu jeder Menge komischer Reibungen kommt, das altbewährte Odd-Couple-Prinzip also. Stattdessen finden die zwei Brüder erstaunlich schnell zusammen, eine rührende Szene zeigt, wie sie durch die gemeinsame Liebe zur Musik ein Fundament finden, auf dem sie aufbauen können. Was zunächst eine reine Zweckbeziehung ist – Jimmy kann Thibaut das Leben retten – wird dann zu dem Beginn einer echten Zuneigung.
Sehenswert und bewegend
Das bedeutet aber nicht, dass die Unterschiede im Anschluss keine Rolle mehr spielen. Eines der spannendsten Themen ist, wie die beiden durch ihre jeweiligen Adoptivfamilien geprägt wurden. Obwohl beide Brüder über musikalisches Talent verfügen, ist ihr Leben komplett anders verlaufen. Während der eine ein weltweit gefragter Dirigent ist, reicht es beim anderen nur für eine Dorfkapelle. Thibaut konnte gefördert werden, der andere musste schauen, wo er bleibt. Gleichzeitig wurde dem Glücksbruder der Erfolg aber nicht geschenkt, er hat jahrelang nur für die musikalische Karriere gelebt, während der andere ein „richtiges“ Leben führen konnte. Die leisen und die großen Töne stellt dabei eine Reihe interessanter Fragen, die aber nicht konsequent verfolgt werden, da dann doch wieder etwas anderes ansteht, die Show muss weitergehen.
Das ist ein bisschen schade, weil die Wundertüte so viel enthält, das es wert gewesen wäre, noch genauer hinzusehen. Stattdessen zeigt sich die Tragikomödie, die bei den Filmfestspielen von Cannes 2024 Premiere hatte, von einer sehr sprunghaften Seite und erreicht nie die Tiefe, die sie verdient hätte. Doch auch in der Form ist Courcol gemeinsam mit seinem Ensemble ein sehenswerter Film geglückt, der mal schön, mal witzig ist und dabei von guten schauspielerischen Leistungen getragen wird. Und spätestens beim Finale, wenn in Die leisen und die großen Töne die Unterschiede endgültig überwunden werden und die Musik zu einer gemeinsamen Liebeserklärung wird, dürften beim Publikum nicht wenige Tränen fließen.
OT: „En fanfare“
IT: „The Marching Band“
Land: Frankreich
Jahr: 2024
Regie: Emmanuel Courcol
Drehbuch: Emmanuel Courcol, Irène Muscari
Musik: Michel Petrossian
Kamera: Maxence Lemonnier
Besetzung: Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco, Jacques Bonnaffé, Clémence Massart, Anne Loiret, Mathilde Courcol-Rozès
Cannes 2024
Fünf Seen Filmfestival 2024
Festival des deutschen Films 2024
Zurich Film Festival 2024
San Sebastian 2024
Französische Filmtage Tübingen-Stuttgart 2024
Französische Filmwoche 2024
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