Die verlorenen Kinder

Auch wenn man zuweilen den Eindruck hat, dass der dokumentarische Teil von Netflix lediglich aus Reality-TV-Shows und True-Crime-Geschichten besteht, ist das Programm doch deutlich vielfältiger. Gerade diesen Monat gab es die unterschiedlichsten Beiträge. Bei Der Kuss, der den spanischen Fußball veränderte wurde ein Thema angesprochen, das sportlich und gesellschaftlich zugleich ist. Investigation Alien handelt von der Suche nach Außerirdischen. Die Rückkehr des Kings: Der Aufstieg und Fall von Elvis Presley wiederum ist musikalisch interessiert. Das größte Potenzial für einen Publikumserfolg dürfte aber Die verlorenen Kinder haben, das an einen Vorfall erinnert, der 2023 weltweit für Schlagzeilen sorgte.

Ein unglaubliches Abenteuer

Genauer erinnert der Film an die unglaubliche Geschichte von vier Geschwistern im Alter zwischen einem und 13 Jahren, die mit an Bord eines Kleinflugzeugs waren, das über dem kolumbianischen Regenwald abstürzte. Dabei kamen die Erwachsenen ums Leben, darunter die Mutter der Kinder. Sie selbst überlebten aber wie durch ein Wunder. Ein noch größeres Wunder war, dass sie im Anschluss vierzig Tage durch den Dschungel irrten, bevor sie schlussendlich gerettet werden. Die Nachricht von der Rettung war überall in der Presse, auch hierzulande wurde ausgiebig darüber berichtet. Das wiederum ist kein Wunder, die News war gleichermaßen spektakulär und herzerwärmend, wie gemacht für die breite Masse. Nicht einmal anderthalb Jahre später versucht Die verlorenen Kinder, an diese große Resonanz anzuschließend und damit selbst ein Publikum zu erreichen.

Dabei wäre es vermutlich naheliegend gewesen, wenn die Kinder selbst zu Wort kommen und von ihren Erfahrungen berichten. Aufmerksamkeit und Anteilnahme durch die Zuschauer und Zuschauerinnen wären ihnen gewiss. Stattdessen konzentriert sich das Regietrio Orlando von Einsiedel, Jorge Duran (Broken Idol: Das Vergehen des Diomedes Díaz) und Lali Hougton auf die groß angelegte Rettungsaktion. Die hat es auch in sich, wenn die kolumbianische Armee und Zivilbevölkerung zusammenarbeiten. Vor allem viele Indigene beteiligen sich an der Suche, da die Vermissten selbst zu diesen gehören. Dieses Erbe spielt in Die verlorenen Kinder auch eine große Rolle, wenn die vier sich daran erinnern müssen, woher sie kommen, um in der unwirtlichen Gegend überleben zu können.

Kunstvoll und emotional

Das Ganze ist emotional, ohne dass der Film dafür die große Keule rausholen müsste. Die Doku verzichtet auf die Manipulationen, wie man sie oft in diesem Bereich findet, vertraut lieber auf die Geschichte. Dafür machen die drei an anderer Stelle mehr, als nötig gewesen wäre. Wohl um nicht in die übliche Dokufalle der Talking Heads zu tapsen, bei der nur Menschen in Interviewsituationen zu sehen sind, wurde optisch einiges investiert. Da wird dann der Dschungel groß in Szene gesetzt, man sieht etwa Großaufnahmen einer Schlange, um damit Stimmung zu erzeugen. Das ist dann zwar atmosphärisch, bietet auch etwas fürs Auge. Die verlorenen Kinder neigt aber zu Exzessen, will dann ein bisschen zu kunstvoll sein.

Wer sich daran nicht stört oder im Gegenteil sogar empfänglich ist für diese Art Show, findet hier aber einiges, wofür es sich einzuschalten lohnt. Da ist nicht nur die unglaubliche Geschichte, die nicht ohne Grund weltweit so viele Menschen bewegte. Auch das Gefühl von Gemeinschaft, welches Die verlorenen Kinder weckt, machen den Dokumentarfilm sehenswert. Neben dem herzzerreißenden Das fantastische Leben des Ibelin neulich gehört das hier damit sicher zu den interessantesten dokumentarischen Produktionen, die Netflix in den letzten Monaten ins Programm aufgenommen hat. Selbst Leute, die letztes Jahr die Nachricht verfolgt haben, werden hier gut bedient.