Am Anfang ist es ein kindlich-vergnügtes Spiel. Bei der Kommunion klaut der blondgelockte Andrzej (Mateusz Więcławek, später Małgorzata Hajewska als Aniela) einem Mädchen den Schleier und rennt über blühende Felder davon. Aber schon 1980, bei der Musterung, zeigen sich auch die Kehrseiten seines Gefühls, im falschen Körper geboren zu sein. Zwar retten die lackierten Fußnägel den jungen Mann vor dem Militär, aber sie treiben ihn auch hin zu der todesverheißenden Brücke, auf der er/sie auch in den Folgejahren stehen wird. Erst einmal jedoch verliebt sich Andrzej unsterblich in Iza (jung: Bogumiła Bajor, danach Joanna Kulig). Es beginnt, erkennbar an den kürzeren Haaren, eine männliche Episode im Leben der künftigen Transfrau. Sie dauert bis zu dem Moment, an dem der frischgebackene Familienvater heimlich Östrogenpillen klaut und in der Bibliothek eine Zeitungsseite mit einem Artikel über non-binäre Geschlechtsidentität herausreißt. Über 40 Jahre erzählt das Drama die Geschichte von Andrzej/Aniela und die ihres Landes: berührend und einfühlsam, schockierend und aufrüttelnd.
Ein verständnisvoller Arzt
1989, zur Wendezeit: „Solidarność“ rufen die Leute auf den Straßen, das verhasste Sowjet-System kippt und es beginnt eine Liberalisierung auf allen Ebenen. Bei einer Faschingsfeier verkleidet sich Andrzej als Krankenschwester, flirtet mit Männern und zwinkert seiner Frau verführerisch zu. Die betrachtet das frivole Treiben anfangs mit skeptischem Staunen, dann aber interessiert und vielleicht sogar neugierig. Alles scheint möglich und erlaubt in den Jahren des Aufbruchs. Trotzdem bricht Andrzej sein Eheversprechen der „Ehrlichkeit“ und geht nur nachts in Frauenkleidern aus dem Haus. Vielleicht ist er/sie schon bereit für eine Transition. Das Land ist es mit Sicherheit nicht. Und so wird es ein langer, harter und einsamer Weg werden, den Aniela zu gehen hat, als sie endlich auf einen verständnisvollen Arzt trifft, der ihr erklärt, dass es nie zu spät sei für das Glück, man selbst zu sein.
Man könnte das als Anklage und Opfergeschichte erzählen in einem transphoben Land, in dem man zuerst seine Eltern verklagen und sich scheiden lassen muss, bevor man eine andere Geschlechtsidentität annimmt. In dem man seinen Job verliert und – zumal auf den Dörfern – von seinem sozialen Umfeld ausgegrenzt wird. Aber genau das tut das polnische Regieduo Małgorzata Szumowska und Michał Englert (Der Masseur, 2020; Die Maske, 2018) nicht. Sie schildern Anielas Weg auch nicht als Heldinnengeschichte, sondern als inneren Kampf, der entweder an der Talbrücke endet oder mit zwingender Konsequenz ins Offene führt. So sehr sich die individuelle und die gesellschaftliche Geschichte auch verschlingen –ab einem bestimmten Punkt schlagen sie verschiedene Richtungen ein. Polen versinkt bis zum Jahr 2023, als der Film beim Festival in Venedig Premiere hatte, in Regression. Aniela hingegen nimmt alle Beschwernisse auf sich, um endlich als „Frau aus…“ leben zu können, wie der Originaltitel übersetzt lautet, in Verbeugung vor Andrzej Wajdas Der Mann aus Marmor (1977) und Der Mann aus Eisen (1981).
Visueller Schutzengel
Michał Englert, der in der Teamarbeit immer auch für die Kamera zuständig ist, fungiert mit seinen Bildern wie ein Schutzengel für Aniela. Mögen die Verhältnisse objektiv auch trist sein, so geht doch den Farben und Lichtern das Tröstliche nie verloren. Überhaupt nimmt der Film keine neutrale Beobachterposition ein, sondern stellt sich ganz an Anielas Seite. Er fühlt sich mit großer Empathie in ihre Perspektive ein und taucht das Geschehen in subjektive Gefühlswelten, inklusive mancher Tagträume und Visionen. So zeichnet er ein Bild von inneren Kämpfen, das einerseits universell verständlich ist und andererseits zugleich die besondere Lage von Transpersonen verdeutlicht. Die Regisseure, die beide nicht trans sind, haben nach eigenen Angaben viele Jahre recherchiert und sich mit vielen Transpersonen von unterschiedlicher Herkunft und Alter ausgetauscht. „Nur dank ihrer großzügigen Unterstützung waren wir in der Lage, diesen Film umzusetzen“, schreiben sie in ihrem Regiekommentar.
Auf diese Weise wird Andrzej/Aniela zur komplexen Person mit inneren Widersprüchen, nicht zu einem Symbol oder eine Stellvertreterin einer Community. Es zählt zu den besonderen Stärken dieses visuell beeindruckenden Porträts, das es trotzdem auch den gesellschaftlichen Hintergrund quasi mitdenkt und mitlaufen lässt, unaufdringlich und leise, aber vielleicht dadurch umso aufrüttelnder. Am Ende steht Aniela, die eindrucksvoll von der polnischen Theater- und Filmschauspielerin Małgorzata Hajewska (keine Transfrau) verkörpert wird, an den hohen Fenstern eines Krankenhauses. Auf ihr Gesicht fällt die aufgehende Sonne, in ihren Zügen liegt Zufriedenheit und Hoffnung. Was der Tag bringen wird, bleibt offen. Aber das Bild ist nahezu prophetisch, auch im politischen Sinne. Am achten September 2023 wurde der Film erstmals gezeigt. Am 15. Oktober errang die Opposition den Sieg über die lange regierende PiS-Partei, die die LGBT-Community zum Feindbild erklärt hatte.
OT: „Kobieta z…“
Land: Polen, Schweden
Jahr: 2023
Regie: Małgorzata Szumowska, Michał Englert
Drehbuch: Małgorzata Szumowska, Michał Englert
Musik: Jimek
Kamera: Michał Englert
Besetzung: Małgorzata Hajewska, Joanna Kulig, Mateusz Więcławek, Bogumiła Bajor, Jerzy Bonczak, Anna Tomaszewska, Jacek Braciak
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