Bob Dylan soll einmal gesagt haben, man dürfe Musiker nicht nach ihren oft tragischen persönlichen Schicksalen beurteilen. Sondern man müsse allein auf das schauen (und hören), was sie in ihren Songs geschaffen haben. Zum Beispiel auf den Humor, die Gefühle und die Lebendigkeit, die in ihre Lieder und Kompositionen eingeflossen sind. Dylan – selbst jüdischer Herkunft – meinte das universell, er hatte nicht speziell jüdische Künstler im Blick. Aber auf die trifft die Aufforderung natürlich ganz besonders zu. Denn die Nazis versuchten, nicht nur die Menschen, sondern auch ihre Kultur komplett zu eliminieren. Daher ist es ein Sieg über Hitler und seine Anhänger, dass es zwei Schallplattensammlern gelang, 70 Jahre verloren geglaubte Aufnahmen von jüdischen Plattenfirmen in akribischer Kleinarbeit wiederzufinden. Filmemacher Christoph Weinert lässt die überraschend modernen Songs nun in einem dokumentarischen Musikfilm neu aufleben. Zusammen mit dem „Semer Ensemble“ macht er die Lebensfreude, aber auch die Melancholie der 1920er und 1930er Jahre für ein heutiges Publikum derart spürbar, als handele es sich um frisch komponierte Chansons, Schlager und Lieder.
Heimliches politisches Statement
„Vorbei“ heißt einer der geretteten Songs. Er wurde in den 1930er Jahren von der Berliner Schauspielerin, Kabarettistin und Sängerin Dora Gerson gesungen und erschien in einem jüdischen Plattenlabel. Vordergründig mutet er als reines Liebes- und Trennungslied an. Der Geliebte schreibt einen Abschiedsbrief, die Frau bleibt mit ihrem Schmerz allein. Aber gut versteckt vor der Zensur handelt das Lied auch von der Liebe der Juden zu Deutschland, das seine Mitbürger inzwischen verstoßen hat. Gesungen wurde es nicht in Jiddisch, sondern auf Deutsch. Und auch das ist ein politisches Statement. Die jüdischen Musiker von damals verstanden sich als Teil der deutschen Kultur. Sie wollten zwar auch die jiddische Tradition und den Klezmer weiter pflegen, aber als integralen Teil eines weltoffenen Kulturlebens, zumal in der schon damals internationalen Berliner Luft. Wie modern man selbst dann noch dachte, als die Nazis einen schon ins Ghetto des „Jüdischen Kulturbundes“ verbannten, zeigt auch ein anderes Lied von Dora Gerson: „Die Welt ist klein geworden“ handelt von der Globalisierung, von den Errungenschaften der Technik und den verpassten menschlichen Chancen: „Wir haben die Erde in Schienen gelegt“, heißt es in einer Strophe. „Und kommen nun selbst aus dem Gleise“.
Im Film interpretieren Sängerin Sacha Lurje und das „Semer Ensemble“ Dora Gersons Lieder. Dargebracht werden sie oft in voller Länge, sodass der Film auch etwas von der Intensität eines Konzerts dieser acht hochkarätigen Musiker atmet. Dazwischen erklären der Bonner Musikhistoriker Rainer Lotz und der israelische Plattensammler Ejal Jakob Eisler, was es mit den beiden Plattenlabels „Semer“ und „Lukraphon“ auf sich hatte. Beide wurden zwischen 1933 und 1938 im Rahmen des „Jüdischen Kulturbundes“ noch geduldet. Während der sogenannten „Reichspogromnacht“ am 9. November 1938 überfiel der Nazi-Mob jedoch die beiden Geschäftsräume und vernichtete sämtliche Platten, Originalmatrizen, Texte und Noten vollständig.
Seitdem galt die Musik als verloren. Nur durch Zufälle und detektivische Arbeit konnten Lotz und Eisler die Arbeit der Labels rekonstruieren, indem sie alten Schellackplatten nachspürten, die die wenigen überlebenden Juden mit in die ganze Welt genommen hatten. Die Schilderungen der beiden Sammler sind dabei streckenweise so spannend wie ein Krimi. Einmal etwa raste Eisler, durch Gerüchte angelockt, zu einem Haus, das gerade abgerissen werden sollte. Die Bagger standen schon vor der Tür und hätten die im Keller verstauten Platten von „Semer“ und „Lukraphon“ beinahe auf den Müll befördert.
Kein Historismus
Etwa 400 Lieder von damals sind wieder zugänglich. Das „Semer Ensemble“ spielt die schönsten und repräsentativsten aus dem äußerst breiten und vielfältigen Repertoire auf seinen Konzerten und der 2016 veröffentlichten Live-CD „Rescued Treasure“. Dem Pianisten Alan Bern und den anderen Musikern, die ebenfalls über ihre Liebe zu der vergessenen Musik reflektieren, geht es dabei nicht um eine historistische Rekonstruktion. Als das größte Lob empfindet der Bandleader die Aussage eines Zuhörers, der nach einem Konzert zu ihm kam. Als Kind, so erzählte der Mann, habe er diese Musik gehasst, weil er sie bei seinen Eltern immer hören musste. Aber so wie sie das „Semer Ensemble“ auf die Bühne bringe, spüre man, dass die Musiker einen eigenen Zugang zu ihr gefunden hätten. Alan Bern will zwei Perspektiven miteinander verschmelzen: die von damals und die Sicht der heutigen Musiker auf das nun wieder zugängliche Material.
Einige der Sänger und Instrumentalisten hatten zuvor gar keinen Bezug zu dieser Art von Liedern. Vielleicht spürt man gerade deshalb die Inbrunst, mit der sie in sie eintauchen und sie mit eigenen Erfahrungen und Gefühlen durchdringen. Ganz sicher hängt es jedoch damit zusammen, dass es ihnen nicht um den Opfer-Status der meist ermordeten Interpreten und Komponisten geht. Sondern, ganz im Sinne Bob Dylans, um die Schönheit und Komplexität ihrer Songs. Der Film folgt dieser Intention mit seinen eigenen Mitteln: unaufdringlich und dank seiner Lebensfreude tief berührend. Indem er sich in den Dienst einer anderen Kunst – der Musik – stellt, bringt er auch sich selbst zum Leuchten.
OT: „I Dance, But My Heart is Crying“
Land: Deutschland, Schweiz
Jahr: 2024
Regie: Christoph Weinert
Drehbuch: Christoph Weinert
Kamera: Boris Heiland, Michael Weihrauch, Hans Oliver Wolf
(Anzeige)