Jacques Audiard Interview
Regisseur Jacques Audiard (© Neue Visionen)

Jacques Audiard [Interview 2024]

Emilia Pérez (Kinostart: 28. November 2024) erzählt die ungewöhnliche Geschichte des mexikanischen Gangsterbosses Manitas del Monte (Karla Sofía Gascón), der in Zukunft als Frau leben möchte und die Anwältin Rita (Zoe Saldaña) damit beauftragt, die Operation und den Neustart zu organisieren. Diese ist zunächst verwirrt, lässt sich auf diesen unerwarteten Auftrag aber ein. Tatsächlich gelingt es ihr, alles in die Wege zu leiten, aus Manitas wird Emilia, sie beginnt ein neues Leben. Ganz so einfach wie gedacht ist es dann aber doch nicht, da Emilia immer wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Wir haben uns im Rahmen der Französischen Filmwoche mit Regisseur und Autor Jacques Audiard über die Arbeit an dem preisgekrönten Thrillermusical unterhalten.

Könnten Sie uns etwas zur Entstehungsgeschichte des Films erzählen? Wie sind Sie auf die Idee für Emilia Pérez gekommen?

Es fing damit an, dass ich den Roman Ecoute von Boris Razon gelesen habe. Darin ist ein Kapitel über einen Gangsterboss, der sein Geschlecht ändern möchte. Diese Idee wurde in dem Buch aber nicht weiter ausgeführt. Also habe ich den Autor angerufen und ihn gefragt, ob er die Absicht hat, diese Idee irgendwann auszuführen. Und als er Nein sagte, entschied ich, das selbst zu machen. Ich habe ihm also quasi die Idee geklaut und bin damit abgehauen.

Und wie lange hat es im Anschluss gedauert, bis aus dieser kleinen Idee eine große Geschichte wurde?

Ich habe innerhalb von zwei Monaten ein Treatment geschrieben. Das ähnelte aber mehr einem Libretto als einem klassischen Drehbuch. In der zweiten Phase habe ich mich mit Musikern getroffen und das Drehbuch ausgearbeitet. Insgesamt hat das vier Jahre gedauert.

Warum überhaupt die Musik? Es wäre ja auch ein reguläres Drama möglich gewesen.

Am Anfang habe ich überlegt, ob ich einen reinen Genrefilm machen sollte. Aber das hat nicht wirklich funktioniert. Ich fand, dass die Musik dem Ganzen noch eine epische Form verleiht. Irgendwie hat die Idee eines Musicals auch immer in mir geschlummert. Ich hatte schon bei meinem zweiten Film Das Leben: Eine Lüge überlegt, gemeinsam mit Alexandre Desplat eine Oper daraus zu machen. Daraus wurde zwar nichts, aber du findest immer noch Spurenelemente in diesem Film. Diese Idee eines Musicals ließ mich aber nie ganz los.

Gab es bei dem Musical ein Vorbild, gerade weil es Ihr erstes ist?

Ich muss zugeben, dass ich nicht wirklich ein Fan von Musicals bin und deshalb auch kein Experte bin. Es gibt aber schon Musicals oder Filme mit Musical-Elementen, die mich beeinflusst haben, zum Beispiel Cabaret, Hair oder Die Regenschirme von Cherbourg. Aber bei all diesen Filmen spielt auch eine historische oder politische Komponente mit. Golden Eighties von Chantal Akerman ist auch eine Referenz. Die Putzfrauen am Anfang von Emilia Pérez sind daran angelehnt, damals waren es Frauen in einem Frisiersalon. Zu dem goldenen Zeitalter der Hollywood-Musicals aus den 1930ern und 1940ern habe ich hingegen weniger Bezug.

Als es dann an die Kompositionen ging, haben Sie Vorgaben gegeben, wie diese Lieder sein sollen? Hatten Sie bereits eine Vorstellung?

Es war wie gesagt ein ziemlich langer Prozess, bis der Film fertig war. Zwischendurch habe ich auch Wo in Paris die Sonne aufgeht gedreht. Zwei Dinge waren uns wichtig, da waren wir uns auch alle einig. Der Film sollte auf Spanisch sein. Das ist bei einem mexikanischen Drama das mindeste. Außerdem sollten die Lieder die Handlung voranbringen, anstatt einfach nur ein Kommentar über den Seelenzustand der Figuren sein. Es gibt bei der Musik zwei Ebenen. Du hast auf der einen Seite die Lieder. Und die kontrastieren auf eine Weise den Rest von dem Score, der auch eine andere Tonalität hat.

Bei Wo in Paris die Sonne aufgeht haben Sie mit zwei Drehbuchautorinnen zusammengearbeitet und Sie meinten damals in unserem Interview, dass Sie auf diese Weise einen weiblichen Blick in die Geschichte bringen können. Gab es Überlegungen, das auch bei Emilia Pérez zu machen, gerade weil es hier auch um das Thema einer Transition eines Mannes zu einer Frau geht?

Bei Emilia Pérez habe ich erst einmal alles allein entwickelt, was für mich sehr untypisch ist. Normalerweise habe ich immer jemand anderen dabei, meistens war das Thomas Bidegain. Er hat auch dieses Mal mitgearbeitet, aber erst sehr viel später, als die Musiker schon dabei waren.

War das eine bewusste Entscheidung, das allein zu machen, oder hat es sich so ergeben?

Das hing auch damit zusammen, dass dies in die Corona-Phase fiel mit den Lockdowns und ich deshalb allein war. Ich dürfte das so gar nicht sagen, aber ich habe die Phase sehr geliebt. Ich hatte vorher schon immer das Gefühl, in einem Lockdown zu leben. So hatte ich die Berechtigung dafür, allein zu bleiben.

Zumindest bei manchen ist Transgeschlechtlichkeit ein kontrovers diskutiertes Thema. Spielte das in den Film mit hinein?

In der ersten Phase, als ich noch allein daran gearbeitet habe, was das alles noch sehr schematisch. Als ich dann Karla Sofía Gascón getroffen und mich für sie entschieden habe, war das eine ausgezeichnete Quelle, wenn ich Fragen zur Transgeschlechtlichkeit hatte.

Wenn wir schon von ihr sprechen, wie schwierig, war es diese Rolle zu besetzen? Ganz alltäglich ist die Figur ja nicht.

Es war schon sehr schwierig, ich habe ein langes Casting gemacht. Während des Castings habe ich auch gemerkt, dass ich mich bei dem Alter der Figuren komplett geirrt habe. Am Anfang war Rita 25, Manitas war 30. Durch Karla merkte ich, dass ich ganz falsch an die Sache herangegangen bin und die Figuren viel älter sein müssen. Dass ich Karla Sofía getroffen habe, hat auch viel mit Glück zu tun. Sie ist eine großartige Schauspielerin und nicht einfach nur eine Trans-Schauspielerin. Ich weiß nicht, wie mein Film aussehen würde, wenn ich sie nicht kennengelernt hätte.

Kannten Sie Karla Sofía denn vorher schon?

Nein, überhaupt nicht. Ich weiß auch nicht mehr, wie ich sie kennengelernt habe. Man muss bei ihr dazusagen, dass ihre Karrieren zwei Phasen umfasste. Sie hat schon vor ihrer Transition geschauspielert, damals noch unter dem Namen Carlos, und war erfolgreich. Dann wurde sie zu Karla Sofía und hat einfach weitergearbeitet.

Und was hat Sie an ihr so fasziniert, dass Sie sogar das Alter für sie geändert haben?

Ich habe es ja für alle drei Schauspielerinnen geändert. Bei Karla Sofía habe ich sofort das Potenzial gesehen, diese Rolle ganz auszufüllen. Das heißt aber nicht, dass sie deswegen sofort gesetzt war. Wir haben zuerst miteinander geprobt und dabei festgestellt, dass wir uns sehr gut miteinander verstehen, und ich habe gesehen, wie sehr sie an sich gearbeitet hat und wie viel sie bieten konnte. Sie hat etwas in ihrem Spiel, dass sie sehr spirituell sein kann, sehr komisch, aber auch sehr berührend.

Letzte Frage noch zur Identität. Das ist ein Thema, das in dem Film eine große Rolle spielt. Die Protagonistin denkt darüber nach, wer sie ist, aber auch die anderen Figuren. Was haben Sie bei der Arbeit mit dem Thema über sich selbst gelernt?

Das ist eine gute Frage, auf die ich aber keine Antwort habe. Ich lerne zwar mit jedem Film noch mehr über das Filmemachen hinzu. Was dies aber mit mir macht, kann ich gar nicht so genau sagen. Wahrscheinlich ist Emilia Pérez auch einfach noch zu nah an mir dran. Ich bin ja immer noch damit beschäftigt, wenn ich zum Beispiel Fragen beantworte. Vielleicht brauche ich erst ein wenig Abstand, um zu erkennen, ob sich etwas in mir verändert hat.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Jacques Audiard wurde am 30. April 1952 in Paris als Sohn des Drehbuchautors und Regisseurs Michel Audiard geboren. Er begann zunächst ein Studium der Literatur und Philosophie an der Pariser Universität Sorbonne, bevor er sich dem Film und Theater zuwandte. Sein erster Erfolg als Drehbuchautor war der auf dem gleichnamigen Roman basierende Thriller Das Auge (1983), dessen Drehbuch er gemeinsam mit seinem Vater schrieb. Sein erster Film als Regisseur war 1994 der Thriller Wenn Männer fallen. Weltweit bekannt wurde er durch den Gefängnisfilm Ein Prophet (2009) und das Drama Der Geschmack von Rost und Knochen (2012). 2015 erhielt er für das Flüchtlingsdrama Dämonen und Wunder – Dheepan die Goldene Palme bei den Filmfestspielen von Cannes. 2018 gab er mit dem Western The Sisters Brothers sein englischsprachiges Debüt.



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