Eigentlich im Pariser Banlieue Stains lebend, besucht der 13-jährige Melrick (Melrick Diomar) über den Sommer seine Oma Nicole (Nicole Diomar) in Französisch-Guayana. Auch wenn inmitten von Fußballspielen, Trommeln, Tänzen, Grillabenden, malerischer Natur und der herzlichen Oma-Enkel-Beziehung alles nach fabelhaften Ferien klingt, liegt dem Stadtteil Mont Lucas in der guayanischen Hauptstadt Cayenne eine traumatische Tragödie zugrunde: Vor über zehn Jahren wurde Melricks Onkel Lucas auf einer Geburtstagsparty erstochen. Nicht nur lag er der dortigen Community als DJ Turbulence und Mitglied der Drum-and-Dance Band Mayouri Tchô Nèg am Herzen, sondern war auch der beste Freund von Yannick (Yannick Cébret), der zum ersten Mal seit dessen Tod aus Frankreich nach Französisch-Guayana zurückkehrt, um einem Gedenkevent für den Verstorbenen beizuwohnen.
Dokumentarisch, realistisch, traumhaft
Regisseur Maxime Jean-Baptiste zeichnet sowohl das Bild einer von Leid geplagten Familie als auch einer von Gewalt geprägten Gesellschaft, der bis heute der französische Kolonialismus in den Knochen sitzt. Beginnend mit einem intimen, warmen Gespräch zwischen Nicole und Melrick beim Abendessen, wird in Kouté Vwa, zu deutsch „Lausche den Stimmen“, die erschütternde Familiengeschichte nach und nach aufgedröselt. Dabei geht Jean-Baptiste sehr behutsam und organisch vor; keine Information wird einfach so eingestreut, kein Story-Element schlicht eingeworfen, damit es im Film enthalten ist. Kein Wunder: Der Regisseur wurde von seiner persönlichen Lebensgeschichte inspiriert und präsentiert mit der starken, eigenständigen, aber ihrer Trauer bewussten Nicole und dem sympathischen, humorvollen, jedoch ob des Schicksals seines Onkels wütenden Melrick vielschichtige, zugängliche Charaktere, die so nah am echten Leben sind, wie es in einer Fiktion möglich ist. Denn obwohl die vorwiegende Form des Films ein fiktionaler Spielfilm ist, verwischt Kouté Vwa die Grenze zur Dokumentation mit einem schmerzhaft realen Hintergrund sowie Interviews mit Betroffenen und Aufnahmen eines Begräbnisses.
Was zusätzlich auf jeden Fall echt ist, ist das zugrundeliegende Trauma der guayanischen Bevölkerung. Noch immer ist das kleine, dichtbewaldete Land an der Nordküste Südamerikas ein französisches Überseedépartement, wird seit Jahrhunderten kolonialisiert. Die französischen Besatzer unterhielten Sklaverei, Strafkolonien und ein Apartheid-ähnliches System – erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts durfte sich Französisch-Guayana mehr oder minder selbst verwalten. Trotz dieser Geschichte gelingt es Maxime Jean-Baptiste, sein Herkunftsland weder zu exotisieren noch die Geschehnisse effekthaschend auszuschlachten. Er stellt auf realistische Weise die Gefühle der Bevölkerung sowie die daraus resultierende Gewalt und Perspektivlosigkeit dar, ohne jemals an der Präsentation von Lebensfreude, Hoffnung und Stärke der agierenden Charaktere zu sparen.
Die Gespräche zwischen Enkel und Großmutter dienen dazu als äußerst treffendes Beispiel einer möglichen Form von Trauerbewältigung. Yannick, der den Mord an Lucas aus nächster Nähe mitbekam und nun eine beschützende Rolle für Melrick einnimmt, wird als gleichzeitig frustriert und reflektierend gezeigt. Seine Trauer über den Tod des besten Freundes wird sehr intensiv und mitfühlend transportiert. Dabei bekommen vor allem die Szenen mit ihm und der guayanischen Landschaft eine visuell traumhafte Note.
Melancholisches Wohlfühlen
Neben der ergreifenden und bedrückenden Geschichte sind es die eindrucksvollen Bilder, die Kouté Vwa wirklich rund machen. Seien es die friedlichen Naturaufnahmen von tropischen Wäldern, Bergen, Stränden und Bächen, die teilweise in ein düster-schönes, pulsierendes Blau getaucht werden und damit um eine melancholische, fast schon bedrohliche Dimension erweitert werden, oder die realistische, natürliche Darstellung des Lebens in Mont Lucas, bietet der Film eine durchweg überzeugende Bildsprache. Vertraulichere Momente werden mit Close-ups und Shaky Cam noch nahbarer gestaltet, es wird mit ansehnlichen One Shot Kamerafahrten oder Slow Motion Passagen experimentiert. Generell sei hier das Colorgrading hervorzuheben: Die Farben sind warm, aber nicht überzeichnet. Modern, aber nicht Netflix-artig seelenlos. Auch die spärliche Soundkulisse, die immer wieder von tiefen Bässen oder ausgelassenem Trommeln durchdrungen wird, trägt zu einer Atmosphäre bei, in der man sich vorsichtig wohlfühlen kann.
OT: „Kouté vwa“
IT: „Listen to the Voices“
Land: Französisch-Guayana, Belgien, Frankreich
Jahr: 2024
Regie: Maxime Jean-Baptiste
Drehbuch: Audrey Jean-Baptiste, Maxime Jean-Baptiste
Musik: Ingrid Simon
Kamera: Arthur Lauters
Besetzung: Melrick Diomar, Nicole Diomar, Yannick Cébret
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