1945 ist das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr fern. Doch noch immer versuchen manche in Deutschland, das Land zu verlassen und ins Ausland zu fliehen. Zu diesen gehört auch Sophie, die gemeinsam mit ihren Eltern von einem neuen Leben in Amerika träumt. Dieser Traum zerplatzt aber brutal, als der Nazioffizier Scharf und der sowjetische Soldat Wassili ihre Eltern töten, als diese gerade in einem Hotel sind. Auch Hitlerjunge Beckmann ist anwesend, wird Zeuge des Mordes. Damit fängt die gemeinsame Geschichte der vier aber erst an. Sie werden auch weiterhin in dem Hotel sein, aus dem es keinen Ausweg gibt und das sie immer wieder an ihre Grenzen führt …
Vision mit langer Vorlaufzeit
Gerade in der heutigen Zeit, in der gefühlt dauernd eine neue Katastrophe geschieht, kommt einem ein Jahr manchmal wie Jahrzehnte vor. Die Corona-Pandemie etwa, die für die meisten eine existenzielle Erfahrung wurde, ist zwei Jahre später für die meisten wieder vergessen – zu viel ist einfach seither geschehen. Ein Vierteljahrhundert wird dadurch zu einer Zeitspanne, die fast gar nicht mehr mental zu begreifen ist. Umso beeindruckender ist, dass Regisseur Heinrich Sabl tatsächlich ein Vierteljahrhundert an Memory Hotel gearbeitet hat, trotz einer sich rasant verändernden Außenwelt an seiner Vision festhielt und sein Werk doch noch zu einem Ende brachte. Oftmals angekündigt und in Artikeln erwähnt, feierte sein Animationsfilm auf der DOK Leipzig 2024 Weltpremiere.
Zum Teil lässt sich die lange Arbeitszeit sicher durch die angewandte Stop-Motion-Technik erklären. Filme brauchen mit dieser fast immer mehrere Jahre, selbst erfahrene Filmschaffende haben damit zu kämpfen, in mühevoller Detailarbeit Objekte zum Leben zu erwecken und damit Geschichten zu erzählen. Aber selbst dann ist die Zeit, die Sabl brauchte, exzessiv. Zumal es nicht so ist, dass er in Memory Hotel atemberaubende Settings erschaffen hätte. Stimmungsvoll ist das Hotel sicherlich, das von Anfang an seltsam ist und mit der Zeit noch unwirklicher wird. Auch die Figuren sind sehr markant geworden, mit Designs, die schon realistisch sind, ohne dabei austauschbar zu werden. Im Vergleich zu anderen Werken aus dem Segment ist das dennoch eher einfach gehalten, man sollte da keine visuellen Wunder erwarten.
Viel unheimlicher Rätselstoff
Dafür darf man sich über andere Aspekte wundern – und das nicht zu knapp. Wenn die vier Hauptfiguren zusammenkommen, sind die unterschiedlichsten Genres denkbar, von einem Kriegsdrama bis zu einem Kammerspielthriller. Und doch ist es bei Memory Hotel kaum möglich, das Gesehene in eine dieser mentalen Schubladen zu packen. Dafür ist es auch einfach zu seltsam, was in diesem wenig einladenden Hotel so geschieht. Zu viel sollte man vorab nicht verraten über das, was da so vor sich geht. Es wäre auch nicht einfach, das Gesehene in Worten adäquat wiederzugeben. Natürlich könnte man Vergleiche bemühen, etwa zum surrealen Alptraum von Alice, gepaart mit Schachnovelle. Und doch würde das dem Ergebnis kaum gerecht werden.
Wer eine Vorliebe für rätselhaft-unheimliche Filme hat, bekommt hier auf jeden Fall eine Menge geboten. Man darf hier viel spekulieren und interpretieren, wenn sich der Film mit der Kriegsgeschichte und den Folgen befasst. Wie viel Zeit wir in dem Hotel verbringen, wird nie klar. Aber es müssen wohl Jahre sein, da die kleine Sophie später als Erwachsene auftritt und dabei nie das Gebäude verlassen hat. Sie ist eine Gefangene des Ortes geworden, der ihre Eltern das Leben gekostet hat, eine Gefangene der Geschichte und ihrer Erinnerungen, sie sich zu einem labyrinthartigen Schauplatz zusammensetzen, bei dem man sich schon verrenken muss, um noch eine Welt da draußen sehen zu können. Ob sich die jahrzehntlange Arbeit gelohnt hat, das wird wohl nur Sabl beantworten können. Zumindest darf man ihm aber dankbar sein, dass er uns mit Memory Hotel ein Werk beschert hat, das einem im Anschluss noch länger im Gedächtnis bleibt.
OT: „Memory Hotel“
Land: Deutschland, Frankreich
Jahr: 2024
Regie: Heinrich Sabl
Drehbuch: Heinrich Sabl
Musik: Erik Lautenschläger, Thomas Mävers
Kamera: Heinrich Sabl
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