Ist das wirklich ein Priester? Filippo (Michele Riondino) geht mit einem merkwürdigen Koffer auf Reisen. Schraubenschlüssel finden sich darin, Bohrer, Schleifgeräte und Sägen. Manchmal weiß Filippo selbst nicht, ob er wirklich ein Mann Gottes ist, denn er steckt in einer tiefen Glaubenskrise. Vielleicht hat ihm der Vatikan genau deshalb diesen Job anvertraut: überprüfen, ob vermeintliche Wunder tatsächlich übernatürliche Erscheinungen sind. Jedenfalls fährt er von Rom ins niederländische Dorf Limburg, wo die 19-jährige Thérèse (Emma Bading) eine Marienstatue hat weinen sehen. Das Video davon geht im Netz viral. Und Skeptiker Filippo ist sich relativ sicher, dass das „Wunder“ irdischer Naturwissenschaft und hochmodernen Untersuchungsmethoden nicht wird standhalten können. Aber will das Dorf und will Filippo tatsächlich in einer Welt leben, aus der eine höhere, nicht auf messbaren Fakten beruhende Wahrheit für immer vertrieben bleibt? Zumindest die hellsichtige Thérèse, die seit vier Jahren kein Wort mehr spricht, glaubt, dass Filippo den verlorengegangenen Bezug zu Gott wiederfinden wird.
Schweres Trauma
Sanft fährt die Kamera die Reihe der Gesichter ab, die vor dem Haus von Thérèses Mutter (Marie-Louise Stheins) Schlange stehen, um von der Statue Erlösung zu erbitten. Die Mienen sind ernst, in sich gekehrt und schmerzerfüllt. In diesem Moment wissen wir noch nicht, was die Frauen und Männer des Dorfes derart quält. Später wird es eine ähnliche Kamerafahrt geben, die entlang der Hände gleitet, an denen sich die Gruppe der Wundergläubigen halten, eine kleine Kette bildend. Spätestens jetzt ist klar: diese Menschen brauchen tiefen Trost, sie sind schwer traumatisiert. Dass die heilige Maria um sie weint, ist – im übertragenen Sinne – eigentlich überhaupt kein Wunder, sondern die einzig angemessene Reaktion. Was genau geschehen ist, verrät der Film nur scheibchenweise. All die großen Fragen, mit denen er sich beschäftigt, bettet er angenehm unaufdringlich in die dramaturgischen Muster und ästhetischen Standards des Thrills.
In einem Interview erzählt Regisseur Jaap van Heusden (In Blue, 2017), wie verblüfft er war, als er gemeinsam mit seiner Frau, einer Journalistin, einmal über ein angebliches Wunder im Wallfahrtsort Lourdes berichtete. Der Vatikan, eigentlich zuständig für das Übernatürliche, war sehr interessiert daran, nicht durch Falschmeldungen in Misskredit zu geraten. Darum schickte er ein ganzes Team von Wissenschaftlern und Experten, um den Fall zu untersuchen. Die paradoxe Thematik und das Drehbuch, das der Regisseur zusammen mit Co-Autor Rogier de Blok schrieb, knüpfen also an reale Vorbilder an. Und zwar nicht nur an Lourdes, sondern auch an einen realen Fall in den Niederlanden im Jahr 1995, als ebenfalls eine Madonna vermeintlich weinte. Der Regisseur konnte dazu den Geistlichen interviewen, der damals die Untersuchung durchführte.
Darf man lügen?
Aber eigentlich spricht der Film kein innerkirchliches Thema an, sondern weitet seine Perspektive ins Allgemein-Menschliche und sogar ins Politische. Gleich zu Beginn beklagt Priester Filippo in einem Voice-Over-Kommentar, dass ein amerikanischer Präsident (wer wohl?) in seinen ersten 1000 Amtstagen 13 000 Mal gelogen habe. Die Lüge sei zu einer Sucht des modernen Menschen im Internet-Zeitalter geworden, beklagt der Geistliche, der sich auf einer Art Kreuzzug gegen den Zeitgeist wähnt. Nur: Ist es in manchen Fällen nicht wirklich humaner, wenn eine kleine Notlüge einem verzweifelten Menschen ein Fünkchen Hoffnung schenkt? Und: Lebt es sich in der kalten Rationalität von MRT-Scans und harten Fakten wirklich besser? Der von Gott verlassene Filippo jedenfalls wird von ständigen Magenschmerzen geplagt. Thérèse vermutet darin einen spirituellen Hintersinn: „Sie sehnen sich nach einem Wunder, deshalb fasten Sie“.
Das Duell zwischen Michele Riondino als Filippo und Emma Bading als Thérèse zählt neben den stimmig angerissenen großen Lebensfragen zu den Höhepunkten des Films. Beide tragen Rätsel mit sich herum, beide sind irgendwie nicht ganz von dieser Welt, obwohl gerade Filippo sich verzweifelt an die Macht des naturwissenschaftlich Beweisbaren klammert. Die dramaturgische Funktion der beiden ist die Gegnerschaft, aber zugleich lässt das Spiel der Hauptdarsteller die Seelenverwandtschaft durchscheinen. Das hat einen Reiz, der sich nicht allein in den Mustern des Thrills erschöpft. Sondern auch zum Nachdenken darüber anregt, ob es nicht doch etwas jenseits des Sichtbaren gibt, für das es sich zu leben lohnt.
OT: „De Man uit Rome“
Land: Niederlande, Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Jaap van Heusden
Drehbuch: Jaap van Heusden, Rogier De Blok
Musik: Minco Eggersman
Kamera: Melle van Essen
Besetzung: Michele Riondino, Raymond Thiry, Emma Bading, Daniela Holtz, Marie-Louise Stheins
Tallinn, Black Nights International Film Festival 2023
Hofer Filmtage 2024
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