Bislang war das Leben in der französischen Kleinstadt eigentlich ganz ruhig gewesen. Doch mit dem Auftauchen der Briefe ist alles ganz anders geworden. Wer diese schreibt, ist nicht klar, sie werden alle nur mit „Der Rabe“ unterzeichnet. Der Inhalt hat es dafür in sich: Die anonymen Schreiben beschuldigen die verschiedensten Männer und Frauen auf infame Weise. So wird beispielsweise dem Arzt Rémy Germain (Pierre Fresnay) vorgeworfen, dass er heimlich Abtreibungen durchführt und zudem Affären mit mehreren Frauen hat. Die Polizei geht der Geschichte nach, kommt aber nicht wirklich weiter, die Identität des Verfassers oder der Verfasserin bleibt ein Rätsel. Dafür sind die Folgen umso deutlicher: Die Menschen fangen an einander zu misstrauen, da alle hinter den Briefen stecken könnten. Mit jedem neuen Exemplar wird die Stimmung weiter aufgeheizt und so manches Geheimnis kommt ans Licht …
Kontrovers und gefeiert
Es wird immer wieder gesagt, dass das Internet heute ermöglicht, anonym die schlimmsten Sachen über andere Menschen zu behaupten, ohne dass diese stimmen müssen und ohne dass man dafür Konsequenzen zu befürchten hat. Dabei hat es das Prinzip schon sehr viel früher gegeben. So kam es 1917 in der französischen Stadt Tulle zu mehreren Vorfällen anonym verfasster Briefe. Von diesen ließ man sich Jahrzehnte später in Der Rabe inspirieren, bei dem ebenfalls die Bewohner und Bewohnerinnen einer französischen Kleinstadt von einer unbekannten Person terrorisiert werden. Agatha Christie hatte ein solches Motiv kurz zuvor bereits in ihrem Krimi Die Schattenhand verwendet, bei dem Miss Marple das Rätsel lösen muss. Bei der französischen Variante wird ebenfalls ein Kriminalfilm aus dem Stoff gemacht.
Wie bei einem klassischen Genrevertreter gibt es eine Vielzahl an Verdächtigen sowie die Polizei, die unter all diesen die richtige Person finden muss. Und das klappt erst einmal nicht, erst zum Schluss wird das Rätsel gelöst. In der Zwischenzeit dürfen die Zuschauer und Zuschauerinnen nach Herzenslust selbst grübeln, Hypothesen aufstellen. Denn ein wenig dubios sind ja fast alle, die in dem Film so auftauchen. Tatsächlich kommt die Bevölkerung so schlecht weg, dass die französische Regierung seinerzeit gegen das Werk protestierte. Nach Ende des Kriegs war dieses auch eine Zeit lang verboten, Regisseur Henri-Georges Clouzot (Die Wahrheit) wurde mit einem Arbeitsverbot belegt. Das Publikum hingegen fand Gefallen an dem Werk, spätere Aufführungen waren gut besucht. Auch die Kritik feierte den Film später als herausragendes Beispiel für den frühen französischen Film Noir.
Blick hinter die Fassade
Dabei geht es in dem Film nicht allein darum, die Identität des verleumderischen Raben herauszufinden. Vielmehr ist er auch ein Porträt der damaligen Zeit und eines Kleinstadtlebens, bei dem nach außen hin die schöne Fassade poliert wird, während es dahinter richtig übel aussieht. Die vielen schmutzigen Geheimnisse, von denen die unbekannte Person spricht, sie kommen ja irgendwo her. Gleichzeitig demonstriert Der Rabe, wie die Menschen reagieren, wenn ihnen jemand zu nahe rückt. Von der ursprünglichen Gemeinschaft bleibt dann nicht mehr viel. Mit leichter Hand werden Risse erzeugt, bis irgendwann alles lautstark zusammenkracht.
Das ist gleich auf mehrfache Weise spannend. Natürlich möchte man wissen, wer die Briefe verfasst – und aus welchem Grund. Das rückt teilweise aber in den Hintergrund, wenn die Neugierde vielmehr die Folgen betrifft. Was werden die Menschen tun? Wie gehen sie mit einer Situation des Misstrauens um, das geradezu krankhafte Züge annimmt? Die wahren Enthüllungen sind gar nicht in den Texten zu finden, sondern dem, was in Folge derselben geschieht. Ob man so weit gehen muss, Der Rabe als Horrorfilm zu bezeichnen, wie es an manchen Stellen zu lesen ist, darf zwar in Frage gestellt werden. Fraglos ist es aber ein Alptraum, in denen die Leute hineinschlittern und bei dem irgendwann nicht mehr klar ist, was davon nun auf den Raben zurückzuführen ist, was auf die menschliche Natur, die sich hier nicht von ihrer besten Seite zeigt.
OT: „Le Corbeau“
Land: Frankreich
Jahr: 1943
Regie: Henri-Georges Clouzot
Drehbuch: Louis Chavance
Musik: Tony Aubin
Kamera: Nicolas Hayer
Besetzung: Pierre Fresnay, Ginette Leclerc, Micheline Francey, Héléna Manson, Jeanne Fusier-Gir, Pierre Larquey, Liliane Maigné
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