Der 20-jährige Kwame (Parista Sambo) und sein gleichaltriger Kumpane Rivo (Dominique Toditsara) hoffen, mit dem Schürfen von Saphir in illegalen Minen auf Madagaskar die große Kohle machen zu können, um aus ihrer Perspektivlosigkeit auszubrechen. Als deren Tätigkeit jedoch aufgedeckt und Rivo von der Polizei getötet wird, muss Kwame wieder zurück: in seine Heimatstadt Toamasina, zu seiner Mutter (Laurette Ramasinjanahary), zur grassierenden Korruption, zur Kriminalität, zu persönlichen sowie gesellschaftlichen Traumata, zu zurückgelassenen Gefühlen, zum Eskapismus der lokal populären Funk-Musik. Die Gegensätzlichkeiten im Land, zwischen Tradition und Technologie, individuellen Zielen und dem Streben nach einem gerechteren politischen Leben, zerreiben ihn sichtlich.
Gefangen im eigenen Land
Zuallererst möchte Kwame, wie so viele in seinem Alter, Madagaskar hinter sich lassen. Er sieht dort keine Möglichkeit, ein besseres, sichereres Leben zu führen. Die Gründe dafür liegen weniger im Reichtum und der Schönheit der Insel, die in Hülle und Fülle vorhanden wären, sondern in der Ungerechtigkeit der Ressourcenverteilung: Die Bevölkerung lebt in Armut, während wertvolle Edelsteine wie Saphir oder Gold für den Export im Sinne des Postkolonialismus abgebaut werden müssen. Der ausbeuterische Kontrast wird in den filmisch ausgearbeiteten Mitteln ersichtlich, da auf größer angelegte Bildbearbeitung verzichtet wird, der Wille zu einer künstlerisch anspruchsvollen Darstellung allerdings evident ist. In einer hauptsächlich naturalistisch-realistischen Form werden sowohl ästhetisch als auch inhaltlich vorherrschende Gedanken der madagassischen Population im Gewand von Kwames Überlegungen porträtiert: Wie kann man für sein Heimatland einstehen? Möchte man dies überhaupt? Kann nur eine Revolution helfen?
Mithilfe von Kwames Familiengeschichte – sein Vater starb aus politischen Gründen – wird ein Bild eines leider oftmals übersehenen und dank einer gewissen von DreamWorks entworfenen Filmreihe bis hin zur Absurdität karikierten Landes gezeichnet, dessen knapp 30 Millionen Einwohnenden eben nicht aus zu I like to move it tanzenden, lustigen Lemuren bestehen. Madagaskar, den flächenmäßig zweitgrößten Inselstaat der Welt, prägen seit der Kolonialisierung durch weiße Eindringlinge eingebrachte Krankheiten, totbringende, illegale Arbeitsweisen, bei denen sich etliche Bewohnende in einer permanenten Angst befinden, erwischt und bestraft zu werden, sowie eine inhärente Notlage ohne Gewissheit vor dem, was eine mögliche Zukunft bringen möge.
Wenig von dem, was verrichtet wird, scheint einen größeren Sinn zu haben, was im Film gerade in der seelenlosen und repetitiven Reisproduktion ersichtlich wird; die Menschen Madagaskars haben rein gar nichts von ihren Leistungen, außer körperliche sowie seelische Repression. Gegenteilig dazu wirkt ihre Umgebung wie ein Hohn ihnen selbst gegenüber: Es herrscht eine einzigartige Flora und Fauna vor, die immer wieder in die Erzählstruktur eingeflochten wird, in der aber kaum Freiheit genossen werden darf. Trotz alledem besitzen die Madagass*innen natürlich Träume, Sorgen und Bestrebungen, flüchten nicht vor der Realität, sondern wollen ihr Land zum Besseren verändern, woran sie immer wieder von den Autoritäten gehindert werden.
Eine Idee – zehn Filme
Disco Afrika nimmt es sich zum Selbstverständnis, die gesamte Geschichte sowie alle Probleme Madagaskars auf sich zu nehmen. Dies stellt eine Mammutaufgabe dar, die keinesfalls in 81 Minuten beleuchtet werden kann. Auch wenn es verständlich ist, ein so unterrepräsentiertes und missverstandenes Land (laut Letterboxd wurden auf Madagaskar bisher nicht einmal 100 Filme gedreht) so sichtbar wie möglich mit all seinen Facetten auf der Filmlandkarte zeigen zu wollen, wäre hier ein Fokus auf eine präzisere, leichter nachvollziehbare Geschichte besser gewesen. Zwar ist mit Kwame ein Protagonist mit emotionalisierendem Schicksal vorhanden, doch werden seine Erlebnisse in nach außen hin zu unwirksamer Weise verarbeitet, was sich in den oftmals ideenlos wirkenden Dialogen zeigt.
Vor allem stößt auf, dass fast jeder Frame wie eine für sich alleinstehende Idee agiert, die keinen größeren Zusammenhang zur vorhergehenden sowie nachfolgenden Ästhetik herstellt. Mal wird eine Szene in melancholisches Blau getaucht, dann wieder äußerst naturalistisch präsentiert, dann ist das Bild plötzlich rot, darauf folgt Surrealismus, wonach das Geschehen konsequent in verschiedensten Einstellungen, die nicht zueinander passen, abgehandelt wird. Disco Afrika schneidet gefühlt eine dreistellige Anzahl von Themen an, ohne jemals näher auf eine dieser einzugehen, weder visuell noch thematisch. Dies soll die filmgeschichtliche Bedeutung dieses Werks nicht mindern, schränkt jedoch die Watchability gravierend ein.
OT: „Disco Afrika : Une histoire malgache“
Land: Madagaskar, Frankreich, Deutschland, Mauritius, Südafrika, Katar
Jahr: 2024
Regie: Luck Razanajaona
Drehbuch: François Hébert, Marcelo Novais Teles, Ludovic Randriamanantsoa, Luck Razanajaona
Musik: Pierre Gratacap, Julien Verstraete
Kamera: Raphaël O‘Byrne
Besetzung: Parista Sambo, Laurette Ramawsinjanahary, Joe Lerova, Drwina Razafimahaleo, Jérôme Oza
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