Die leisen und die großen Töne (Kinostart: 26. Dezember 2024) erzählt die Geschichte des Star-Dirigenten Thibaut Desormeaux (Benjamin Lavernhe), der durch seine schwere Erkrankung feststellt, dass seine vermeintliche Familie gar nicht seine ist. Dafür hat er mit Jimmy Lecoq (Pierre Lottin) einen ihm bislang unbekannten Bruder, der ebenso die Musik liebt, jedoch in einer Amateur-Blaskapelle spielt. Nach einem etwas schwierigen Anfang lernen sich die beiden näher kennen und schätzen, bauen eine echte Verbindung auf. Wir haben bei der Französischen Filmwoche 2024 mit Regisseur und Co-Autor Emmanuel Courcol sprechen können. Im Interview unterhalten wir uns über die Arbeit an der Tragikomödie und das Thema Familie.
Könnten Sie uns etwas zu der Entwicklung von Die leisen und die großen Töne sagen? Wie sind Sie auf die Idee für den Film gekommen?
Es fing damit an, dass ich vor zwölf Jahren gefragt wurde, als Script Doctor an einem Drehbuch zu arbeiten. Die Geschichte spielte in Nordfrankreich und handelte von Blasorchestern und Fanfaren. Der Film wurde am Ende nie gedreht, aber ich habe dadurch gemerkt, dass es eine Möglichkeit gibt, zwei sehr unterschiedliche musikalische Milieus miteinander zu vergleichen. Auf der einen Seite hast du das amateurhafte Orchester, auf der anderen Seite die Profis von den klassischen Orchestern, die Elite also. Die Idee mit den beiden Brüdern hat auch eine persönliche Komponente, da mein Bruder Trompete gespielt hat. Zehn Jahre lang musste ich mir anhören, wie er im Zimmer nebenan Trompete geübt hat. Daher kommt dann wahrscheinlich die Geschichte von den zwei Brüdern.
In Ihrem ersten Film Ceasefire sprachen Sie auch schon von zwei Brüdern. Ist das jetzt Zufall oder beschäftigt Sie das Thema so sehr?
Solche Geschichten um Geschwister oder Familiengeschichten allgemein arbeiten schon in mir. Wie sieht das Verhältnis aus? Wenn man so will, ist Die leisen und die großen Töne eine Synthese aus meinen beiden ersten Filmen. Bei Ceasefire ging es um zwei Brüder nach dem ersten Weltkrieg. Bei Ein Triumph stehen sich zwei Kulturen gegenüber, zwei Milieus, wenn ein Theaterregisseur mit Gefängnisinsassen Beckett aufführt. Diese beiden Themen habe ich weiterentwickelt und zu einem Film zusammengeführt.
In Ihrem neuen Film denken Sie auch viel über das Thema Familie nach, wenn zwei Brüder eine Familie bilden, ohne es je gewesen zu sein. Wie würden Sie Familie definieren? Was bedeutet das für Sie?
Familie ist eine Notwendigkeit. Das kann die Hölle sein, kann das Paradies sein. Es ist von beiden etwas. Als Filmemacher ist das Thema natürlich ein unerschöpflicher Quell der Inspiration. Auch mein nächster Film wird sich übrigens um das Thema drehen. Dieses Mal geht es um die Beziehung zwischen Eltern und ihren Töchtern. Ich mache also auf diesem Weg weiter. Man kann diesen Begriff aber natürlich auch weiter fassen. Wer keine Familie hat, schafft sich eine. Bei Die leisen und die großen Töne ist es das Orchester, das zu einer Art Familie wird. Das habe ich auch bei meinen Recherchen festgestellt, dass in diesen Orchestern quasi familiäre Verbindungen herrschen.
Gilt das auch für Filme? Wird Ihr Filmteam für Sie zu einer Art Familie?
Ich weiß nicht, ob ich es wirklich als Familie bezeichnen würde. Aber es ist schon eine gute Truppe, wie beim Theater. Ich komme ja selbst vom Theater und war Schauspieler und finde es schön, wenn man diesen Geist, den man vom Theater kennt, beim Film wiederfindet. Das war schon bei Ein Triumph ausschlaggebend und hat sich beim neuen Film noch einmal verstärkt. Da ist schon eine gewisse Nähe und das geht auch über die Dreharbeiten hinaus. Man bleibt da in Kontakt und ich werde bei dem neuen Film wieder mit der technischen Crew zusammenarbeiten.
Das Thema der Familie geht in dem Film auch mit der Frage der Prägung einher. Beide Brüder sind offensichtlich musikalisch sehr begabt, haben sich aber in sehr unterschiedliche Richtungen entwickelt, wohl auch weil sie in unterschiedlichen Familien und Milieus aufgewachsen sind.
Das mit den Prägungen der beiden Brüder geht natürlich in beide Richtungen. Du kannst dich fragen, was aus Thibaut geworden wäre, wenn er im Norden aufgewachsen wäre, aber auch, wie es Jimmy ergangen wäre, wenn er mit der Familie von Thibault aufgewachsen wäre. Man weiß einfach nicht, was passiert wäre. Natürlich gibt es eine Art sozialen Determinismus: Wir haben nicht alle den gleichen Zugang zu Kultur und Bildung oder auch Karriere. Aber es gibt immer wieder Ausnahmen, die Fehler im System, wenn sich jemand von seiner sozialen Klasse emanzipiert. Ich selbst komme aus einer Familie mit vier Geschwistern und bin der Einzige, der Theater gemacht hat und einen etwas anderen Weg eingeschlagen hat. Meine Eltern kamen aus einem ganz anderen Umfeld und meine Schwestern und Brüder haben eher klassische Berufe ergriffen. Meine Drehbuch-Co-Autorin Irène Muscari kommt wirklich aus einem klassischen Arbeitermilieu und nun schreiben wir zusammen Drehbücher fürs Kino. Insofern ist es gut, wenn es noch andere Ausgangstüren gibt und nicht alles vorgegeben ist.
Kommen wir auf das Thema Musik. Können Sie uns etwas zu der Inszenierung der Orchester-Szenen verraten? Worauf kam es Ihnen dabei an?
Es war mir bei diesen Szenen wichtig, die Individualität der Musiker herauszuarbeiten, sehr nahe an sie heranzugehen und das Verhältnis zum Dirigenten zu zeigen. Natürlich gibt es dabei auch mehr Konkurrenz. Es geht zwar schon darum, harmonisch zusammenzuspielen. Gleichzeitig will jeder der Beste sein. Bei der Amateurkapelle geht es um etwas ganz anderes. Dort will man zusammen Spaß haben, baut auch soziale Bindungen auf. Deswegen ist die Kamera dort weiter und es gibt offenere Bilder.
Am Ende werden diese beiden musikalischen Welten zusammengeführt. Warum haben Sie hierfür den Bolero gewählt?
Der Bolero verkörpert einfach beides. Es ist das populärste klassische Stück, das es überhaupt gibt. Jeder hat es mindestens einmal gehört. Diese zyklische Struktur und dieses wiederkehrende Motiv sorgen dafür, dass es einem nicht mehr aus dem Kopf geht. Hinzu kommt, dass Ravel durch den Besuch einer Fabrik und den dortigen Maschinenlärm zu dem Stück inspiriert wurde. Auch dadurch kommt es zu einer Verbindung dieser beiden sozialen Ebenen. Im Film entsteht durch die beiden Orchester in Verbindung mit dem Publikum eine Brüderlichkeit, die natürlich ein bisschen idealisiert ist, aber auch Hoffnung macht zum Schluss.
Vielen Dank für das Gespräch!
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