Die in Spanien lebende Ena (Ena Alvarado) besucht ihren Vater Ignacio (Ignacio Alvarado) und dessen allmählich dement werdende Mutter (Adela Rodríguez) in ihrer Heimatstadt Caracas. In der Buchhandlung ihres Vaters findet die 25-jährige eine Postkarte, die ein verschollenes, pseudonymisiertes Buch des venezolanischen Autoren und Komponisten Rafael Bolívar Coronado erwähnt. Ena packt die Neugier und sie beginnt gemeinsam mit ihrem Vater, Nachforschungen anzustellen …
Gegen das Vergessen
Halb autobiografisch, halb dokumentarisch anmutend, setzt sich Lorena Alvarado in Los capitulos perdidos mit ihrem Geburtsland und ihrer dort verbliebenen Familie auseinander. Bei der kurzen Laufzeit von etwas mehr als einer Stunde wird deutlich, dass das Werk weniger ein klassischer Erzählfilm und mehr eine Sammlung vieler Impressionen ist. So sind Enas und Ignacios Suche nach Coronados Buch und der Gedächtnisverlust von Mamama, wie Ena ihre Großmutter liebevoll nennt, zwei lose Handlungsstränge, die aber keine wirkliche Dramatik aufbauen (sollen) – eine willkommene Abwechslung zum sonst nach Klimaxen hechelnden Mainstream-Kino.
Das offensichtlichste Narrativ suggeriert schon der Titel: Wie sich der Mensch wünscht, seine Vergangenheit zu bewahren und ständig abrufen zu können. Nicht nur während der Besuche von Ena und Ignacio in den vollgestopften Bibliotheken und Straßenbuchhandlungen tritt dieses Bedürfnis immer wieder optisch hervor – Ena versucht auch ihre Großmutter zu ermutigen, ein von ihr als junge Frau verfasstes Gedicht auswendig zu lernen. Auf kleinster gemeinschaftlicher Ebene probiert sie also die Erinnerung an ihr Leben und das nahestehender Personen zu erhalten. Mit der Suche nach Coronados Buch drängt sie sogar nach der Korrektur einer kollektiven Erinnerung ihres Landes.
Eine Stadt in Postkarten-Ästhetik
Statisch sind die meisten Bilder, die uns Alvarado vorhält; trotzdem verraten sie uns genug über das soziale und kulturelle Umfeld, in dem sich die, von ihrer Schwester gespielten, Protagonistin befindet. Die Regisseurin verzichtet fast vollständig auf eine dynamische Kameraführung und verwandelt Venezuelas Hauptstadt durch die zahlreichen regungslosen Totalen in einen Stapel Postkarten (von denen auch schon während der Opening Credits ältere, tatsächliche Exemplare auftauchen). Dabei entfalten die gezeigten Eindrücke größtenteils eine romantische Wirkung. So sehen wir saftige Bäume und bunte Pflanzen im gleißenden Sonnenlicht oder einen nach Wasser schnappenden Kolibri in der Abenddämmerung. Nur eine handvoll Einstellungen maroder Straßen und Hochhausfassaden der Metropole – in denen die Covid-19-Pandemie noch immer Spuren im Alltag der Menschen hinterlassen hat – unterwandern subtil diese Atmosphäre. Fast hypnotisierend wirkt im Kontrast außerdem die Kamerafahrt gegenüber einer bunt bemalten Mauer während einer Rollertour von Ena und Ignacio.
Man könnte ob dieses visuellen Stils meinen, dass der Blick Alvarados auf das von Nicolás Maduro autoritär regierte Venezuela größtenteils ein verklärender ist. Doch wirkt die Aneinanderreihung der Aufnahmen im häufigen Zusammenspiel mit Harfenklängen so verträumt, dass der Anspruch eines politischen Kommentars fast schon lächerlich wäre.
OT: „Los capítulos perdidos“
Land: Venezuela, USA
Jahr: 2024
Regie: Lorena Alvarado
Drehbuch: Lorena Alvarado
Kamera: José Ostos
Besetzung: Ena Alvarado, Ignacio Alvarado, Adela Rodríguez, Anavelina Mellior
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