Payal Kapadia ist eine indische Filmemacherin. Bereits mit ihrem 2017 entstandenen Kurzfilm Afternoon Clouds sorgte sie international für Aufsehen, da dieser als einziger indischer Beitrag bei den Filmfestspielen in Cannes im gleichen Jahr gezeigt wurde. Darüber hinaus ist sie bekannt für ihren Dokumentarfilm-Hybriden A Night of Knowing Nothing über die Beziehung von Kunst, Protest und Liebe sowie die sozialen Konventionen ihrer Heimat. 2021 wurde Kapadia für ihren Film mit dem Golden Eye Award bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet sowie mit dem Preis in der Kategorie Bester Dokumentarfilm auf dem Indian Film Festival of Melbourne.
Ihr neuer Film All We Imagine as Light lief bereits auf zahlreichen internationalen Filmfestival, beispielsweise auf den Filmfestspielen in Cannes 2024, wo Kapadia für ihre Arbeit mit dem Grand Prix ausgezeichnet wurde. All We Imagine as Light wurde auch in der Kategorie Bester Fremdsprachiger Film und Beste Regie für einen Golden Globe nominiert. Viele Fachzeitschriften, unter anderem Sight & Sound nennen Kapadias Film einen der besten von 2024.
Anlässlich des deutschen Kinostarts von All We Imagine as Light am 19. Dezember 2024 spricht Payal Kapadia im Interview über die Inspirationen zum Film, über die Stadt Mumbai und die Frauenfiguren im Film.
Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zur der Nominierung für den Golden Globe. Hattest du damit gerechnet?
Das ist unbeschreiblich. Ich bin nach wie vor sehr glücklich über die vielen positiven Besprechungen zu All We Imagine as Light, aber vor allem über die vielen Menschen, die ins Kino gehen, um ihn sich anzusehen. Das bedeutet mit sehr viel, denn wir hatten nicht viel Geld fürs Marketing und dass der Film nun so positiv ankommt bei Publikum und Kritik ist wirklich ganz toll.
Glaubst, du dass der Erfolg für All We Imagine as Light das indische Kino international etwas mehr pushen wird, besonders das abseits von Bollywood-Produktionen?
Die indische Filmlandschaft ist in vielerlei Hinsicht besonders. Jährlich werden hunderte von Filmen in allen unterschiedlichen Dialekten und Regionen produziert und dies haben natürlich ein sehr großes Publikum. Viele Regisseure sehen es deswegen nicht als notwendig an, ihren Film auch in andere Ländern zu vermarkten oder diesen auf Festivals zu zeigen, weil die Auswertung in Indien schon alleine sehr lukrativ ist.
Das sieht natürlich ganz anders aus für kleine, unabhängig produzierte Filme wie meinen. Festivals können ein Weg sein, damit diese Produktionen gesehen und besprochen werden. Deswegen hoffe ich, dass viele All We Imagine as Light sehen und den Mut finden, den Weg zu gehen, den ich und mein Team mit diesem Projekt eingeschlagen haben.
All We Imagine as Light scheint zur richtigen Zeit zu kommen, da der Ruf nach Vielfalt und Diversität im Filmgeschäft und bei Festivals immer lauter wird. Erkennst du bei diesen Themen Fortschritte?
Das ist ein wichtiges Thema, denn die Filmauswahl eines Filmfestivals ist sehr davon abhängig, ob das Komitee nach diesen Aspekten zusammengesetzt ist. Vielleicht kommen wir einmal an einen Punkt, an dem es keine Rolle mehr spielt, wer einen Film gemacht hat, woher jemand kommt und welches Geschlecht er oder sie hat. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg und so lange wir noch über Themen wie Rassismus sprechen müssen, werden diese Punkte nach wie vor eine Rolle spielen.
Dann lass uns über den Film selbst sprechen. Wie kamst du auf die Idee zu All We Imagine as Light?
Die Idee zu All We Imagine as Light entstand vor langer Zeit, ungefähr 2017, als ich in meinem letzten Jahr an der Filmschule war. Ich wollte unbedingt einen Film über zwei Freundinnen machen, die komplett andere Wertevorstellungen und Weltanschauungen haben. Es sollte zu einem Konflikt zwischen ihnen kommen, doch auch zu einer Veränderung in diesen beiden Figuren.
Ungefähr zur gleichen Zeit verbrachte ich wegen privater Gründe sehr viel Zeit in Krankenhäusern und begann mich für diese Welt zu interessieren. Darüber hinaus war ich umgeben von der hektischen Arbeitswelt Mumbais und ihren vielen Einflüssen, die ich ebenfalls in das Projekt miteinbeziehen wollte. Je mehr ich aber an dieser Geschichte, den Figuren und den Themen arbeitete, wurde mir klar, dass dies alles viel zu viel für einen kurzen Abschlussfilm werden würde.
Nachdem ich A Night of Knowing Nothing fertig gestellt hatte, wollte ich mich wieder mit diesem Projekt befassen. Es dauerte noch eine Weile, bis ich die richtigen Produzenten für das Projekt und das Geld zusammen hatte, aber 2022 war es dann so weit und wir begannen mit der Arbeit an All We Imagine as Light.
Ist es wahr, dass der Titel des Films auf einem Gemälde deiner Mutter beruht? Wenn ja, wie hängen das Kunstwerk mit deinem Film zusammen?
Um ehrlich zu sein, fand ich den Titel einfach schön. (lacht)
Meine Mutter und ihre Arbeit sind eine große Inspiration für meine Filme. Ihr Ansatz gleicht sehr meinem, denn auch sie vermischt mythologische Elemente mit Realismus, mit Auszügen aus Zeitungen oder anderen Quellen. Die Figur in ihrem Gemälde fand ich interessant, weil sie, nicht unähnlich Platons Höhlenbewohnern, ein Licht sieht und in diesem den einzigen Ausweg sehen kann. Im Original heißt der Film übrigens „Everything we thought of as light“ und hat eine doppelte Bedeutung. Bezogen auf die Figur Prabha im Film geht es um jemanden, der nur einen Weg in seinem Leben sieht und dabei alles andere vergisst oder nicht beachtet.
Du hast bereits angesprochen, dass die Krankenhäuser Mumbais, besonders aber die dort arbeitenden Krankenschwestern, dich interessiert haben. Was hat dich an ihnen so fasziniert und zu den Figuren in All We Imagine as Light inspiriert?
Die meisten Berufe kann man in Indien ausüben, ohne seine Heimatregion zu verlassen. Bei Berufen in der Pflege sieht das etwas anders aus, sodass es keine Ausnahme ist, dass Pfleger oder Pflegerinnen weit weg von ihrem Heimatdorf in einem der großen Krankenhäuser in den Großstädten Indiens arbeiten oder ihre Ausbildung dort machen. Gerade für Frauen ist der Beruf der Pflegerin oder der Krankenschwester eine sehr attraktive Möglichkeit, die heimischen Regionen zu verlassen und Geld zu verdienen, für sich und die Familie. Viele Familien können ohne das Geld, das diese Frauen schicken, gar nicht oder nur sehr schwer überleben. Das ist eine sehr widersprüchliche Situation für diese Frauen, denn auf der einen Seite genießen sie zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie Freiheit, auf der anderen Seite sind sie und ihre Familien auf ihren Verdienst angewiesen.
Außerdem fand ich diese Dualität bei den Krankenschwestern, die ich kennenlernte spannend. Man kann sie den ganzen Tag beobachten, wie sie ihrer Routine nachgehen und jederzeit sehr professionell wirken, doch sobald ihre Schicht zu Ende ist, schlüpfen sie in ein Kleid und sind auf einmal eine ganz andere Person.
War All We Imagine as Light immer schon als Spielfilm angelegt oder hast du während der Planung auch in Erwägung gezogen, einen Dokumentarfilm über das Leben und die Arbeit dieser Krankenschwestern zu drehen?
Frederick Wiseman hat bereits einen Film zu diesem Thema gemacht, sodass eine weitere Dokumentation darüber eher redundant wäre.
An der Filmschule wurden wir sowohl in Spielfilm als auch in Dokumentarfilmen unterrichtet. In meinen Arbeiten versuche ich immer, diesen beiden Punkte miteinander zu verbinden. Selbst A Night of Knowing Nothing ist kein reiner Dokumentarfilm, was sicherlich den ein oder anderen Zuschauer auf die Palme bringt, wenn er oder sie den Film sieht. Meine Abschlussarbeit an der Filmschule behandelte Apichatpong Weerasethakuls Mysterious Object at Noon und die Grenze zwischen Fiktion und Non-Fiktion, die der Film immer wieder überschreitet.
Natürlich bestehen Kritiker und die Kuratoren auf Filmfestivals und Museen darauf, dass etwas ein Spielfilm oder eine Dokumentation ist, aber für einen Regisseur spielt das keine Rolle. Am Ende steht ein Film und das ist alles, was zählt. Abgesehen einmal davon, kann man in der Welt, in der wir leben, doch eh nicht mehr unterscheiden, was wahr ist und was falsch, also warum noch die Unterscheidung zwischen Fiktion und Non-Fiktion?
Wieviel von All We Imagine as Light ist denn Fiktion und wie viel ist Wahrheit?
Wenn du mich fragst, ist alles Fiktion bei diesem Film. Ich wollte den Film beginnen wie eine Mischung aus Neo-Realismus und einem nouvelle vague-Film der 1960er Jahre, doch mit der Zeit sollte er sich verändern und zu etwas ganz Anderem werden. All We Imagine as Light beginnt an der Oberfläche, doch geht immer mehr ins Innere vor, auch das der Figuren.
Agnes Varda, Chantal Akerman und von heutigen Regisseurinnen sind es besonders Menschen wir Maren Ade, die mich begeistern.
Dokumentarfilmer haben einen ganz eigenen Blick auf die Welt und Menschen. Würdest du sagen, dass die Arbeit an Dokumentation dir beim Drehen eines Spielfilms hilft?
Auf jeden Fall. Ich kann mir noch so viele Gedanken über den narrativen oder ästhetischen Ansatz einer Geschichte machen, denn die Welt findet garantiert eine Herangehensweise, die viel verrückter und abwegiger ist. Von daher ist es wichtig für mich, alltägliche Dinge und Abläufe zu beobachten, dann über diese kann man sehr viel lernen und, wenn man genau hinsieht, auch sehr viel sehen.
Filmemachen ist meiner Ansicht nach die Welt und sich selbst aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Man kann darüber reflektieren, was um einen herum oder in einem passiert. Es gibt so viel, was ich an dieser Welt einfach nicht verstehe, genauso wie an mir selbst. Das Filmemacher gibt mir die Möglichkeit, zumindest ein paar dieser Fragen zu beantworten. Aber es wird wahrscheinlich noch eine ganzes Leben lang dauern, bis ich all die Antworten habe, nach denen ich suche. (lacht)
Kannst du was zu der Besetzung von All We Imagine as Light sagen und wie diese zustande kam?
Als ich anfing, mir über die Besetzung der Rollen Gedanken zu machen, meinte ich naiverweise, dass ich wahrscheinlich mit Nicht-Schauspielern arbeiten könnte. Für andere Rolle, wie der von Anu, wollte ich auf Darsteller zurückgreifen, die man noch nicht kennt oder die wenige Rolle in Filmen bekommen. Für die Rolle der Parvaty dachte ich ernsthaft, dass ich jemanden finden würde, der genau diese Arbeit, die sie im Film verrichtet, macht. Über 200 Frauen habe ich für die Rolle interviewt, doch am Ende war das alles Unsinn. Die Idee, dass diese Frauen, die mit beiden Beinen im Leben stehen, mehrere Monate lang ihre Arbeit aufgeben würden und nur noch meine Anweisungen befolgen würden, war einfach dämlich von mir. Letztlich habe ich mich für Chhaya Kadam als Parvaty entschieden. In Indien ist sie sehr bekannt und hat in vielen tollen Filmen mitgespielt.
Für die Rolle der Anu habe ich lange nach einer geeigneten Schauspielerin gesucht, bis mir jemand vom dem Film The Declaration erzählte, der vor ein paar Jahren auf dem Filmfestival in Locarno lief. Das Interessante an Divya Prabha Figur in diesem Film ist, dass es eine Produktion während der Zeit der Pandemie ist und sie während des ganzen Films über eine Maske trägt. Dennoch schafft sie es über ihre Augen so viel dem Zuschauer mitzuteilen, dass ich vom ersten Moment an begeistert von ihr war. Um zu wissen, ob sie für All We Imagine as Light richtig war, lud ich sie auf ein Wochenende zu mir nach Hause ein, was ich immer mache, wenn mich ein Schauspieler wirklich interessiert. Schon als ich die vom Bahnhof abholte, merkte ich, dass sie die Richtige für die Rolle sein würde, weil sie so quirlig war und immerzu Fotos machte mit ihrem Handy.
Inwiefern hatten die Darsteller und ihre Persönlichkeit Einfluss auf die Figuren?
Wenn ich eine Geschichte schreibe und mir dazu Figuren ausdenke, habe ich immer eine sehr genaue Vorstellung, wie die Person zu sein hat, die diese Rolle dann spielt. Wenn ich mich dann aber mit den Schauspielern treffe, mit ihnen rede und Zeit verbringe, merke wir beide, dass sehr viel von Ihrer Persönlichkeit und ihren Gefühlen bezüglich der Geschichte, deren Themen und Figuren in die Rolle fließt.
Für All We Imagine as Light war es so wie bei meinen anderen Projekten auch, für die wir drei Wochen lang wie eine Theatergruppe probten. Neben den Szenen im Drehbuch haben wir verschiedene Ansätze und Betonungen ausprobiert, genauso haben wir aber auch Szenen einstudiert, die nicht im Drehbuch standen. Wir wollten wissen, wie eine Figur auf eine bestimmte Aussage oder ein Ereignis reagiert und viele von diesen Szenen haben es letztlich in den fertigen Film geschafft. Diese Phase vor dem eigentlichen Dreh ist ein sehr interessante Zeit, für mich wie auch die Darsteller, denn wir lernen sehr viel.
Welche Szene zum Beispiel?
Na ja, zum Beispiel die Szene, in der Anu in den Finger ihres Freundes beißt und ihn verletzt. Wir hatten bei den Proben keine Ahnung, wie die Szene wohl werden würde und wie die Figuren darauf reagieren würde, doch wir fanden das Ergebnis so gut, dass wir die Szene aufschrieben und sie nun im Film ist.
Das gilt auch für die Szene, in der die drei Frauen zusammen Schnaps trinken. Wir wollten einfach nur einen Moment haben, in dem diese drei Frauen sich entspannen und Spaß haben. Das hat dann so gut funktioniert, dass wir diesen Moment im Film haben wollten.
Neben den menschlichen Charakteren gibt es da noch die Stadt Mumbai, die besonders im ersten Teil von All We Imagine as Light zu so etwas wie einer weiteren Hauptfigur wird. Was bedeutet Mumbai für dich?
Mumbai ist ein Ort voller Widersprüche, ich liebe diese Stadt und ich hasse sie zugleich. In All We Imagine as Light sehen wir die zwei Seiten dieser Metropole, die gerade jungen Leuten sehr viele Möglichkeiten bietet, dann aber auch wieder sehr unschöne Seiten hat. Gewalt, Gentrifizierung und Ungleichheit haben das Bild dieser Stadt in den letzten Jahren sehr geprägt und ich finde, dies wird immer schlimmer je rasanter Mumbai wächst. In den 70ern war das noch anders, man fand sehr viele Gemeinschaften, Verbünde und Gewerkschaften in Mumbai, doch in den 90ern änderte sich dies schlagartig.
Wie war die Zusammenarbeit mit Dhritam Das, der die Filmmusik für All We Imagine as Light komponierte?
Mit Dhritam habe ich zwei Jahre bevor ich mit den Dreharbeiten zu All We Imagine as Light begann, angefangen zu arbeiten. Nachdem wir über den Film, die Themen und die Figuren gesprochen habe, machte er sich an die Arbeit und schickte mit Vorschläge für verschiedene Stücke, bei denen es in erster Linie um bestimmte Stimmungen ging. Wir sind beide sehr melancholische Menschen und haben ein Faible für 80er Jahre Synth-Musik.
All We Imagine as Light ist unter anderem ein Film darüber wie Sprache zugleich eine Verbindung zwischen Menschen sein kann, aber auch ein Hindernis. Kann das Kino eine Möglichkeit sein die Leerstellen aufzufüllen, an denen die Sprache an ihre Grenzen kommt?
Das denke ich schon. Das Kino hat seine eigene Sprache und kann Menschen verbinden. In unserer Sprache haben wir zwar die Worte um auszudrücken, dass wir jemanden brauchen oder lieben, aber dies dann dem Menschen klar zu machen, fällt und oft schwer oder ist gar unmöglich. Was uns in der Sprache schwer fällt, ist im Kino sehr viel einfacher. Hier kannst du miteinander kommunizieren, ohne zu sprechen. Das gibt sehr viel Freiheit.
Das Schöne am Kino ist, dass es eine universelle Sprache ist. Ich kann einen Film von Abbas Kiarostami schauen über eine Dorfgemeinschaft im Iran. Das ist alles sehr fern von meiner Lebensrealität, aber dennoch verstehe, worum es in der Geschichte geht und was die Figuren fühlen.
Andererseits kann es natürlich sein, dass mir als Betrachter bestimmte Nuancen entgehen. Auch für meinen Film ist es wahrscheinlich so, dass ein Detail einem Zuschauer in Europa nicht so viel bedeutet oder gar nicht erst auffällt, während es einem Zuschauer in Indien sehr viel sagt.
Gibt es schon neue Projekte, an denen du arbeitest?
Die gibt es, im Moment sind es zwei Filme, an denen ich arbeite. Aber im Moment ist es wahrscheinlich noch viel zu früh, um über sie zu reden. In einem geht es um die fragile Geschichte Mumbais und er ist, zusammen mit dem anderen Projekt und All We Imagine as Light, Teil einer Trilogie über die Stadt.
Vielen Dank für das tolle Gespräch.
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