Ein namenloser Flüchtling (Bishop Black) wird nackt und in einem schwarzen Koffer an den Ufern der Londoner Themse angespült. Nachdem er die Aufmerksamkeit der Dienstmagd einer bourgeoisen Familie erregt, bringt sie ihn in deren opulentes Anwesen, gibt ihm Arbeit und versorgt ihn mit Kleidung. Bereits beim ersten gemeinsamen Abendessen weckt der Fremde das Interesse der gesamten Familie, und in den folgenden Tagen sucht jedes einzelne Familienmitglied seine Nähe. Seiner fast magischen Anziehungskraft kann sich niemand entziehen, und die resultierenden sexuellen Erfahrungen dienen als Katalysator. Sie alle brechen aus ihren Komfortzonen aus und erfahren der Reihe nach eine Art spirituelle Befreiung.
Von Sex und Tabus
Bereits in früheren Filmen thematisiert Regisseur Bruce LaBruce Sexualität, sexuelle Freiheit und Fetischismus. In Gerontophilia (2013) befasst er sich mit der gleichnamigen Neigung, also dem sexuellen Interesse an älteren Menschen. Mit Pierrot Lunaire (2014) drehte er einen gesellschaftskritischen Film, in dem er Geschlechterverhältnisse und das Patriarchat hinterfragt. Eines haben alle seine Werke gemeinsam: Er scheut sich nicht davor, Themen wie Sex, Gewalt und Tabus schonungslos darzustellen. Mit The Visitor lässt er sich stark von Pier Paolo Pasolinis Skandalfilm Teorema – Geometrie der Liebe (1968) inspirieren und erzählt erneut eine Geschichte, die die Grenzen sexueller Liberalisierung nicht nur ausreizt, sondern überschreitet.
Subtilität? Fehlanzeige.
The Visitor verzichtet auf einen langsamen Einstieg. Der erste Blick auf die Villa der Familie in einem der teuersten Stadtteile Londons könnte vermuten lassen, dass das Leben hinter den Toren gepflegt und nach strenger Etikette ablauft. Falls dies der Fall war, reicht schon die bloße Präsenz des Fremden, um diese fragile Illusion von Perfektion aus den Fugen zu bringen. Das erste gemeinsame Essen ist ein Festmahl aus den Exkrementen und dem Blut des Fremden. Die ganze Familie verzehrt sich metaphorisch bereits nach ihm und sieht in ihm eine Chance, aus der Tristesse und Langeweile ihres Lebens auszubrechen und ihre tiefsten, geheimen Gelüste auszuleben. Diese erste Szene steht stellvertretend für eine Reihe gesellschaftlicher Themen und Probleme, die LaBruce kritisiert: Kolonialismus und Rassismus des Westens, die Diskrepanz zwischen Arm und Reich sowie die Arroganz und Selbstgefälligkeit, die oft mit Geld und Macht einhergehen – subtil ist für LaBruce ein Fremdwort. Hinter der Fassade von Manieren verbergen sich Depression, Deprivation, Primitivität und grenzenlose Lust.
Weaponized Porn
Genau diese Lust stellt Bruce LaBruce erbarmungslos zur Schau. Die „sexuelle Liberalisierung“ der Familie beinhaltet das Ausleben von sexuellen Vorlieben und Geschlechtsidentitäten, die gesellschaftlich zunehmend enttabuisiert sind, wie Homo- und Transsexualität. Auch die Zeiten, in denen ein Film mit Sexualpraktiken wie BDSM, SM und Dominanz als „Skandalfilm“ galt, sind vorbei – und dementsprechend sind solche Themen für LaBruce zu harmlos. Sexuelle Konfrontation ist sein Markenzeichen, und so geht er einen Schritt weiter. Unter eingeblendeten Slogans wie „Kolonialisiert die Kolonialisten“, „Fuck your Father“ und anderen visualisiert er Tabus wie Inzest, Raceplay, Gewalt und Blut. Kritisch zu sehen ist dabei das vermeintliche Gleichsetzen von beispielsweise Transsexualität und Inzest. Zurück bleibt vor allem Schock – und das andauernde Gefühl, wegschauen zu wollen, sich aber dennoch nicht losreißen zu können.
Konsequent inszeniert
Bei der Inszenierung von The Visitor bedient sich Bruce LaBruce einer Ästhetik, die absichtlich qualitativ niedrig gehalten ist und mehr an einen billig produzierten Porno erinnert als an einen Spielfilm. Damit bleibt er konsequent in dem, was er aussagen und zeigen möchte. Die Kameraarbeit ist voyeuristisch und passend zur übersexualisierten Thematik des Films. Explizite Fetischsexszenen werden vollständig abgefilmt; wenn schlechtes Licht oder Nebel keinen klaren Blick zulassen, wird durch Zoom entgegengewirkt. Die Fantasie des Zuschauers ist nie gefragt – der Blick ist immer frei auf Bruce LaBruces Glorifizierung eines exzessiven Sexes, der keinerlei Tabus kennt. Gleichzeitig bedient er sich greller Farben, Lichtblitzen und einem harten, lauten Soundtrack aus elektronischen Beats. Der Zuschauer wird – passend zur filmischen Thematik – visuell und auditiv überstimuliert.
OT: „The Visitor“
Land: UK
Jahr: 2024
Regie: Bruce LaBruce
Drehbuch: Bruce LaBruce, Alex Babboni, Victor Fraga
Musik: Hannah Holland
Kamera: Jack Hamilton
Besetzung: Bishop Black, Macklin Kowal, Amy Kingsmill, Ray Filar, Kurtis Lincoln, Luca Federici, John Foley
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