So ganz versteht die junge Witwe Elisabeth (Renate Reinsve) ja nicht, warum sie an die Schule gerufen wurde, zumal zunächst niemand mit der Sprache herausrücken will. Das hat einen guten Grund, wie sie später feststellen muss. So behaupten ihre Schwägerin Sarah (Ellen Dorrit Petersen) und deren Mann Anders (Endre Hellestveit), dass Elisabeths Son Armand ihren Sohn Jon sexuell missbraucht haben soll. Lehrerin Sunna (Thea Lambrechts Vaulen) hat die schwierige Aufgabe, bei diesem Vorfall zu vermitteln. Für Elisabeth ist klar, dass das absoluter Blödsinn ist. Tatsächlich kann auch niemand den Vorfall bestätigen. Klar ist nur, dass Jon weinend und mit Verletzungen aufgefunden wurde. Als die Beteiligten über die Geschichte und mögliche Folgen diskutieren, gerät die Situation zunehmend außer Kontrolle …
Die Suche nach der Wahrheit
Es ist ein ebenso großes wie schweres Erbe, das Halfdan Ullmann Tøndel da mitbekommen hat. Als Enkel des Regisseurs Ingmar Bergman und der Schauspielerin Liv Ullmann, die jeweils Filmgeschichte geschrieben haben, verwundert es nicht wirklich, dass er sich ebenfalls der Welt des Films zugewandt hat. Einige Kurzfilme konnte der Norweger bereits vorweisen, bevor er 2024 in der Sektion Un Certain Regard von Cannes mit seinem Langfilm Armand debütierte. Dort erhielt er nicht nur wegen seines Stammbaums viel Aufmerksamkeit. Auch sein Film genoss hohes Ansehen, wurde als bester Debütfilm ausgezeichnet. Ob die Auszeichnung gerechtfertigt ist, darüber lässt sich natürlich streiten. Aber es ist doch ein ungewöhnliches Werk, das er da auf sein Publikum loslässt. Und ein forderndes.
Beispielsweise braucht es einiges an Geduld. So dauert es eine ganze Weile, bis der Film mal die Karten auf den Tisch legt und verrät, worum es denn geht. Zum Teil liegt das natürlich auch am Thema. Über sexuellen Missbrauch spricht man nicht so leicht, umso mehr, wenn Täter und Opfer Kinder sind. Mit der Situation sind alle überfordert, vor allem die Lehrer und Lehrerinnen. Bei Armand ist das allmähliche Enthüllen aber auch ein grundsätzliches Prinzip. Je mehr Zeit man mit den Figuren verbringt, umso mehr erfährt man von ihnen und den eigentlichen Problemen, welche sie verbindet. Der Film ist dabei eine Mischung aus den Kammerspiel-Diskussionsgeschichten à la Der Gott des Gemetzels, wo mit jedem Wort mehr von der zivilisierten Fassade eingerissen wird, und einem dieser typisch skandinavischen Dramen im Stil von Das Fest, bei denen schmerzhafte Vorgeschichten enthüllt werden.
Gewöhnungsbedürftige Grenzüberschreitung
Doch mit fortlaufender Geschichte werden Grenzen immer weiter verwischt. Das betrifft beispielsweise das Genre, wenn das Drama einige Thrillerelemente bekommt. Vor allem aber gehen mit der Zeit Realität und Imagination ineinander über. Immer wieder wird das Geschehen von Visionen unterbrochen, die zunehmend ins Surreale übergehen. Armand gleicht einem eigenartigen Fiebertraum. Je unerträglicher die Inhalte werden, über die gesprochen – oder nicht gesprochen – wird, umso mehr verschiebt sich die Darstellung von einer nüchtern-naturalistischen hin zu einer eigenwilligen Theatralik, die nie erklärt wird. Wer es vorzieht, dass Filme nachvollziehbar sind und Aussagen ausformuliert werden, ist hier vielleicht an der falschen Adresse.
Zusammengehalten wird dieses seltsam auseinanderbrechende Werk durch die schauspielerische Leistung. Vor allem der norwegische Shooting Star Renate Reinsve, der vergangenes Jahr auch in A Different Man und Handling the Undead zu sehen war, beweist mal wieder die eigene Klasse. Besonders eine Szene, in der Lachen und Weinen eng beieinander liegen, sind beeindruckende Demonstrationen ihres Könnens. Auch wenn Armand inhaltlich etwas schwierig ist und man zuweilen den Eindruck hat, dass der Regisseur und Drehbuchautor kein wirkliches Interesse am eigenen Thema hat, ist das hier ein sehenswertes Debüt geworden, das neugierig macht auf weitere Filme.
OT: „Armand“
Land: Norwegen
Jahr: 2024
Regie: Halfdan Ullmann Tøndel
Drehbuch: Halfdan Ullmann Tøndel
Musik: Ella van der Woude
Kamera: Pål Ulvik Rokseth
Besetzung: Renate Reinsve, Ellen Dorrit Petersen, Øystein Røger, Endre Hellestveit, Thea Lambrechts Vaulen, Vera Veljovic
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