Für den Komponisten Jean (Anton von Lucke) ist die Musik sein Ein und Alles. In Diskussionen mit Freunden und Kollegen sowie mit seiner Frau, der Pianistin Helena (Maria Spanring), spricht er so enthusiastisch von der Wirkung der Kunst, dass man ihn scherzhaft für einen Träumer hält, der nicht sieht, wie die Kunst immer weniger bei den Menschen wertgeschätzt wird. Die finanziellen Sorgen sind Jean und Helena jedoch nicht unbekannt, weswegen es wie ein unerwarteter Segen anmutet, als ihre Vermieterin Klara (Sabine Timoteo) ihnen eines Tages aus heiterem Himmel die Miete erlässt. Das ist aber nur ein Teil des plötzlichen Lebenswandels der Frau, die außerdem ihren Job kündigt, ihre Möbel verschenkt und schließlich beginnt, auf dem Dach ihrer Wohnung zu leben, während sie dort eine Gruppe Fremder Obdach gewährt. Helena beginnt, sich Sorgen um Klara zu machen, während Jean beobachtet, wie Klaras Verzicht auf alle weltlichen Güter bei den Nachbarn und letztlich gar in der ganzen Stadt auf viel Zustimmung stößt. Zu den Bewunderern, die sich scharenweise in der Nähe ihrer Wohnung einfinden, kommen jedoch ebenso viele, die mit Klaras Einstellung nichts anfangen können und in ihr eine Feindin sehen.
Was bleibt
Orte, Lebenseinstellungen und Menschen bestimmen die Filme von Regisseur Anatol Schuster, (Frau Stern, Luft) so auch seinen neuen Film Chaos und Stille, der im Wettbewerb des diesjährigen Filmfestival Max Ophüls Preis vertreten ist. Filme wie Luft oder Ein idealer Ort stellen die unterschiedlichen Lebensweisen in unserer Gesellschaft dar, doch auch wie diese dem unaufhaltsamen, schnellen Wandel standhalten können. Chaos und Stille geht dabei einen Schritt weiter, wenn er nach dem fragt, was am Ende eines Lebens oder am Ende der Kunst noch davon übrig bleibt, wie Schuster im Kommentar zu seinem Film erklärt. Der Film ist aber vor allem als Drama über die diversen Spannungen in unserer Welt interessant, in der jeder für seine eigene Ideologie alles umdeutet, beansprucht und vereinnahmt und so letztlich zu der eigenen Einsamkeit und der vieler anderer beiträgt.
Eigentlich gehören uns die Dinge, die wir besitzen, nicht wirklich, doch ihre Macht auf unser Leben ist immens. Dies fasst sehr allgemein den Konflikt zusammen, der das Leben von Helena und Jean definiert, aus dem sich Klara jedoch radikal zu befreien versucht. Sie gleichen den beiden Helden in Georges Perecs wundervollen Roman Die Dinge, da sich des Diktats der Materialismus und des Kapitalismus bewusst sind und dies auch in Jeans Fall immer wieder proklamieren, sich aber nicht vollends befreien können. Klara bildet nicht nur eine Ausnahme oder die Möglichkeit eines Entkommens, sondern auch eine Provokation in unserer heutigen Welt, gerade weil ihr Ausbruch unkommentiert bleibt und sich damit einer Erklärbarkeit entzieht.
Schusters Inszenierung und Julian Krubasiks Bildsprache sind angemessen ruhig, deuten auf die emotionalen Konflikte ihrer Helden hin, doch bleiben bewusst vage. Interessant ist dabei die Konfrontation der beiden Lebenswege, der Klaras und der des jungen Künstlerehepaares, denn was bei den einen sich nur in der Kunst wiederfindet, wird für Klara zu einem Lebensweg, der bis zum Ende weiterverfolgt wird.
Narrative und Sinnkrisen
Die eine Hand muss der anderen zuhören, nur so könne Harmonie entstehen, erklärt Helena einer ihrer Schülerinnen das Klavierspiel. An Klängen, Stimmen und sogar Krach mangelt es nicht in ihrer Welt, erst recht nicht bei den erbitterten Duellen um Lebens- und Sichtweisen, bei dem keiner dem anderen mehr zuhört und es nur noch um das „Recht-Haben“ geht. Eine individuelle Entscheidung gibt es scheinbar nicht, denn sie wird, wie in Klaras Fall, direkt vereinnahmt, von denen, die in ihr einen Ausweg aus einer spirituellen Krise sehen, und von jenen, die in ihr einen Angriff auf ihr eigenes Lebensnarrativ sehen.
Anton von Lucke und Maria Spanring spielen zwei Menschen, deren Idealismus auf die Probe gestellt wird durch eine Frau, die sich Freiheit nicht mehr länger erkauft, sondern sie lebt. Auf der anderen Seite überzeugt Sabine Timoteo mit ihrer sensiblen und unaufgeregten Darstellung einer Frau, die aussteigt und sich immer mehr in sich selbst zurückzieht. Die Einsamkeit, die für viele eine Folter ist, scheint für Klara eine Einkehr zu sein, eine Affirmation der eigenen Freiheit, jedoch ist es klug von der Schauspielerin sowie der Inszenierung, dass dies nicht ausbuchstabiert wird. Dabei kann man vielleicht auch verzeihen, dass Chaos und Stille gegen Ende hin etwas zu spirituell wird.
OT: „Chaos und Stille“
Land: Deutschland
Jahr: 2024
Regie: Anatol Schuster
Drehbuch: Anatol Schuster
Musik: Henrik Ajax
Kamera: Julian Krubasik
Besetzung: Sabine Timoteo, Anton von Lucke, Maria Spanring, Michael Wittenborn
Max Ophüls Preis 2025
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