Die unterschiedlichsten Menschen leben in dem Sozialbau in der Stadt Be`er Scheva, die im Süden Israels mitten in der Negev-Wüste liegt. Sie kommen aus verschiedenen Ländern, sprechen verschiedene Sprachen. Vor allem haben sie unterschiedliche Ansichten, weshalb es immer mal wieder zu Meinungsverschiedenheiten kommt. Manche versuchen sich aus dem Weg zu gehen, was aufgrund der Enge aber nicht so einfach ist. Schon der Alltag in diesem Mikrokosmos ist von viel Dynamik geprägt. Zuletzt hat es darüber hinaus einige eigenartige Entwicklungen gegeben. So verwandeln sich die Bewohner und Bewohnerinnen zunehmend in Nashörner …
Die Anfänge des Totalitarismus
Im Laufe seiner Jahrzehnte dauernden Karriere hat Eugene Ionesco die unterschiedlichsten Werke verfasst, sei es als Theaterstück, Roman oder Essay. Der wohl berühmteste Titel des französisch-rumänischen Autors dürfte aber nach wie vor Die Nashörner sein. Darin erzählte er von einer Gesellschaft, in der sich die Menschen allmählich in Nashörner verwandeln. Anders als aber bei Animalia, wo solche tierischen Verwandlungen zu einer Ausgrenzung führen, nehmen bei Ionesco die Leute diese Änderung gar nicht war. Im Gegenteil: Es werden diejenigen ausgegrenzt, die auf die Änderung aufmerksam machen. Die Erzählung ist einer der Klassiker des Absurden Theaters und schildert, wie sich Gesellschaften in totalitäre Systeme verwandeln können, ohne dass es in der Bevölkerung zu einer Gegenwehr kommt.
Das Werk ist mittlerweile einige Jahrzehnte alt und könnte doch aktueller kaum sein. Ob in den USA oder Europa, immer mehr Länder schaffen Freiheiten ab und werden dabei von Teilen der Bevölkerung beklatscht. Regisseur Amos Gita nutzt in Shikun diese Vorlage, um ein Porträt der israelischen Gesellschaft anzulegen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Reaktion auf den Überfall der Hamas und den anschließenden Gaza-Krieg. Vielmehr ließ sich Gita von den vorangegangenen Ereignissen beeinflussen, als die israelische Regierung nach und nach die Demokratie abschaffen und kritische Gegenstimmen ausschalten wollte. Damals gab es durchaus Proteste, Massendemonstrationen kämpften gegen die Verwandlung. Aber eben auch viele, die eine solche Wandlung hin zum Totalitären befürworten. Seit dem Krieg werden das nicht weniger geworden sein.
Spannend und frustrierend
Shikun spricht aber nicht von großen Demonstrationen, zeigt keine gewaltsamen Auseinandersetzungen. Vielmehr wird hier ein Wohnhaus zu einem Mikrokosmos, zu einem Spiegel der israelischen Gesellschaft. Das bedeutet auch, dass die Menschen kein homogenes Gemisch sind, sondern die unterschiedlichsten Leute zusammen. Das macht sich auch in der Sprache bemerkbar, die ständig wechselt. Da gibt es Hebräisch, Arabisch, Englisch – und Französisch, wenn Irène Jacob Ionesco zitiert. Was es hingegen nicht gibt, sind traditionelle filmische Tugenden wie ein roter Faden oder eine Handlung. Der Film ist eine Sammlung aus einzelnen Momenten und Begegnungen, von Gesprächen und Überlegungen. Da passiert nicht viel, was sicherlich einige irritieren oder auch langweilen könnte. Identifikationsfiguren fehlen auch.
Und doch ist dieser Drama-Essay-Mix, der bei der Berlinale 2024 Weltpremiere hatte, spannend. Gita hat zwar auf eine direkte Adaption von Die Nashörner verzichtet, die Verwandlung ist in Shikun auch nur symbolisch. Aber er zeigt, wie diskriminierende und totalitäre Ansichten langsam Teil der Gesellschaft werden, selbst in festen Demokratien. Und das ist etwas, das als Warnung sehr gut funktioniert, eben nicht nur für Israel, sondern auch andere Staaten, deren Fundament langsam erodiert. Die bedrohlichen Veränderungen kommen eben nicht nur durch machtbesessene Politiker, die von oben alles gleichmachen. Manches Unglück findet unten seinen Anfang.
OT: „Shikun“
Land: Israel, Frankreich, UK, Schweiz, Brasilien
Jahr: 2024
Regie: Amos Gita
Drehbuch: Amos Gita
Vorlage: Eugene Ionesco
Musik: Alexey Kochetcov, Louis Sclavis
Kamera: Eric Gautier
Besetzung: Irène Jacob, Yaël Abecassis, Menashe Noy, Hana Laslo, Naama Preis, Bahira Ablassi, Helena Yaralova, Minas Milad Qarawany
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