Eigentlich hatte sich Leo (Juli Grabenhenrich) damit abgefunden, keinen Vater zu haben, schließlich war sie ganz ohne aufgewachsen. Als sie mit 15 jedoch von seiner Existenz erfährt und dass dieser in Italien lebt, beschließt sie, auf eigene Faust hinzufahren und ihn kennenzulernen. Einen ganzen Fragenkatalog hat sie vorbereitet, will alles wissen. Paolo (Luca Marinelli) ist jedoch völlig damit überfordert, als die Jugendliche plötzlich vor ihm steht, weiß nichts mit ihr anzufangen. Auf der einen Seite versucht er schon ihr zu helfen. Gleichzeitig will er verhindern, dass seine Frau und sein Kind von Leo erfahren, weshalb es immer wieder zu Konflikten kommt. Erst mit der Zeit lernt er sich zu öffnen. Und auch die Teenagerin muss erst verstehen, was die Situation für ihn bedeutet …
Familie wider Willen
Der Lebenslauf von Alissa Jung ist recht spannend. So begann sie bereits mit 16 mit der Schauspielerei, stand zuerst auf der Bühne, drehte später auch Filme. Vor allem aus dem Fernsehen kennt man sie, unter anderem spielte sie in Inga Lindström: Gretas Hochzeit und Einsatz in den Alpen: Der Armbrustkiller mit, dazu diverse Serien. Später studierte sie Medizin, arbeitete einige Jahre als Ärztin in einem Krankenhaus. Inzwischen ist sie wieder bei Filmen tätig, will sich aber nicht länger damit begnügen, vor der Kamera zu stehen. So hat sie mehrere Kurzfilme gedreht, mit Paternal Leave gibt sie nun ihr Langfilmdebüt als Regisseurin und Drehbuchautorin. Wer so viel erlebt hat, hat auch einiges zu erzählen. Anstatt aus eigenen Erfahrungen zu schöpfen, ist das Drama jedoch rein fiktional. Dafür gibt es eine andere autobiografische Verbindung: Hauptdarsteller Luca Marinelli ist ihr Mann.
Das Thema des Werks ist dann auch Familie, wenn eine Jugendliche und ihr Vater sich das erste Mal gegenüberstehen. Das Motiv, dass ein Kind bei einem Verwandten landet und dieser sich kümmern muss, findet man oft in Filmen. Bei Scrapper ist es ebenfalls ein Mann, der sich seiner Tochter annimmt, die er nie kannte und die er jetzt das erste Mal trifft. Meistens sind es äußere Umstände, die das Treffen bedingen, etwa der Tod des anderen Elternteils. In Paternal Leave geschieht das hingegen auf Initiative des Kinds, das endlich wissen will, wer ihr Vater ist. Wo es sonst also oft eine wechselseitige Distanz gibt, da herrscht hier von Anfang an ein Ungleichgewicht. Sie will ihren Vater, er will seine Ruhe, würde das Mädchen am liebsten gleich wieder in den Zug nach Hause setzen.
Zwischen Aufbruch und Stillstand
Ein Sympathieträger ist er damit nicht. Er wird es auch nicht wirklich im Lauf der knapp zwei Stunden. Zwar macht der Film klar, wie sehr er damals überfordert war als junger Mann. Dass die aktuelle Situation für ihn unangenehm ist, das ist ebenfalls nachvollziehbar. Wie erklärt man der eigenen Frau, noch ein Kind zu haben, das man all die Jahre verheimlicht hat? Paternal Leave bleibt an dieser Stelle aber mehr oder weniger stehen. Wo man eigentlich erwarten sollte, dass es zu einer Entwicklung kommt, zu einem allmählichen Verständnis, da ist das Drama seltsam statisch. Wobei das bei Leo nicht anders ist, auch sie bewegt sich wenig, was angesichts ihres Alters leichter zu entschuldigen ist. Gleiches gilt für den Irrsinn, quer durch Europa zu fahren in ein Land, dessen Sprache man nicht spricht und wo man niemanden kennt, um einem Geist hinterherzujagen. Eigentlich sollte man meinen, dass das größere Probleme bereitet. Irgendwie aber nicht.
Aber auch wenn das Drama, das 2025 auf der Berlinale Weltpremiere hatte, inhaltlich zuweilen etwas unbefriedigend ist, hat er doch seine sehenswerten Momente. Immer wieder sind da emotional sehr raue Szenen, in denen Vater und Tochter mit sich und einander zu kämpfen haben. Gelungen ist beispielsweise, wie Leo ihren Fragenkatalog abarbeitet, so als könnte sie damit ein verpasstes Leben in kleine Teile hacken. Wenn einen Paternal Leave eines lernt, dann ist es, dass das alles viel komplizierter ist. Am Ende des Films haben die zwei zwar erste Schritte gemacht. Und doch sind sie noch am Anfang einer Reise, bei der unklar ist, wohin sie führt – und ob sie überhaupt irgendwo hin führt.
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