Die Berlinerin Rose Berger (Marie Bloching) befindet sich im Übergang. Von ihrer Lebensgefährtin Jazz (Franziska von Harsdorf) nach der Trennung aus der gemeinsamen Wohnung geworfen, schlüpft Rose auf dem Sofa ihres älteren Bruders Samuel (Anton Weil), den alle nur „Sami“ nennen, unter. Überhaupt vermittelt die junge Arzthelferin den Eindruck, als wüsste sie nicht recht, wohin sie im Leben will. Was ihr ihre Mutter Linda (Proschat Madani) bei jeder Gelegenheit unter die Nase reibt. Beim liebevollen Sami findet Rose Halt, bis ein nächtlicher Vorfall die Beziehung der Geschwister erschüttert. Samis Bekanntschaft Elisa (Laura Balzer), die er für einen One-Night-Stand mit nach Hause gebracht hat, wirft Sami Vergewaltigung vor. Rose, die währenddessen im Wohnzimmer schlief, wird zur Vernehmung aufs Polizeirevier vorgeladen und von einem Kriminalkommissar (Aram Tafreshian) vernommen. Was sie dort erfährt, wird ihre Beziehung zu Sami für immer verändern und könnte auch dessen Beziehung zu Lia (Jane Chirwa), einer alleinerziehenden Mutter zweier Söhne, für die Sami Gefühle empfindet, gefährden.
Bruderschmerz
Schwesterherz ist Sarah Miro Fischers Langfilmdebüt. Seine Weltpremiere feiert dieses intime Familiendrama in der Panorama-Sektion der 75. Berlinale. Nach eigener Aussage ist das Hauptziel der 1993 geborenen Drehbuchautorin und Regisseurin, mit ihrem Debüt eine Diskussion anzustoßen. Die Chancen darauf stehen gut, denn Fischer erzählt von einem heiklen Thema auf ungewohnte Weise.
Im Zentrum der Handlung steht die Beziehung zweier Geschwister. Ein Vergewaltigungsvorwurf bringt beider Leben aus der Balance. Entscheidend ist die Perspektive. Anders als beispielsweise in Eva Trobischs Film Alles ist gut (2018), der das Verbrechen und dessen Nachwehen aus Sicht des Opfers schildert, oder in Sven Taddickens Das schönste Paar (2018), der alternierend die Sicht einer Frau und ihres Partners, der die Vergewaltigung hilflos mitansehen musste, einnimmt, entscheidet sich Fischer für einen dritten Weg. Sie erzählt ihre Geschichte durch die Augen der Schwester des Täters. Was dem Kinopublikum eine außergewöhnliche Perspektive eröffnet und unbequeme Fragen aufwirft. Die Regisseurin formuliert es so: „Solange wir Täter als Monster abstempeln, wird es uns unmöglich sein, sie in unserer Mitte zu erkennen – als Freunde, Kollegen und Brüder.“
Um einen möglichst großen Effekt zu erzielen, wirft Fischer ihr Publikum mitten ins Geschehen. Wer sich hier nachts seinen Weg durch Berlin bahnt und in welcher Beziehung diese von Marie Bloching gespielte Hauptfigur zu den übrigen Figuren steht, ergibt sich erst sukzessive, jedoch stets organisch. Verstärkt wird dieses Gefühl der Geworfenheit durch das visuelle Konzept des Films. Denn die Kamerafrau Selma von Polheim Gravesen wählt ausgesprochen kleine Einstellungsgrößen, die selbst bei Ortswechseln keinen Überblick über die Szenerie gewähren. Klaustrophobisch sind diese Aufnahmen aber keineswegs. Ganz im Gegenteil wird durch das enge Verhältnis von Blochings Figur Rose zu ihrem von Anton Weil gespielten Bruder Sami eine zärtliche Intimität erzeugt. Erst ganz allmählich, wenn sich die Beziehung der Geschwister verschlechtert und die Figuren vermehrt durch Tür- und Fensterrahmen gefilmt werden, schlägt diese Intimität in visuelle wie emotionale Enge um.
Steter Tropfen …
Als symbolisch aufgeladenes, audiovisuelles Motiv haben Sarah Miro Fischer und ihre Co-Drehbuchautorin Agnes Maagaard Petersen einen tropfenden Wasserhahn gewählt. Das permanente Pochen, immer dann, wenn das Wasser in die Küchenspüle in Samis Wohnung fällt, hält Rose nachts wach. In der Nacht der Vergewaltigung steht Rose deshalb auf, geht zur Spüle und erhascht einen Blick auf Samis Opfer Elisa (Laura Balzer) beim Verlassen der Wohnung. Zu diesem Zeitpunkt geht Rose – und mit ihr das Kinopublikum – davon aus, dass Sami einen One-Night-Stand hatte. Erst nachdem Rose auf dem Polizeirevier Elisas Aussage hört, beginnt diese Annahme zu bröckeln. Gemeinsam mit Rose stellen schließlich auch die Kinozuschauer infrage, was sie in jener Nacht durch Roses Augen von der Wohnzimmercouch aus wahrgenommen haben.
Dass auch Filmbilder „lügen“ können, weil es auf deren Perspektive ankommt, wissen wir spätestens seit Akira Kurosawas Rashomon (1950). Anders als beim großen Japaner wiederholt Fischer die Schreckenstat jedoch nicht, auch setzt sie diese nie ins Bild. Das Verbrechen im angrenzenden Zimmer wird lediglich auf der Tonspur vermittelt – und ist dadurch auch für das Kinopublikum nur schwer als solches identifizierbar. So wie der tropfende Wasserhahn Roses Schlaf stört, wird schließlich auch ihre Beziehung zu Sami nachhaltig gestört, je weiter die Handlung voranschreitet. Steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein und im vorliegenden Fall das Vertrauen von Rose zu ihrem Bruder aus.
Der Film selbst hat nur wenige Irritationsmomente zu bieten. Drastische Wendepunkte, große Gesten und theatralische Darbietungen sind nicht Fischers Sache. Stattdessen setzt die Debütantin auf eine behutsame, beiläufige, beinahe unscheinbare Inszenierung mit offenem Ende. Dabei verlässt sie sich voll und ganz auf ihre Hauptdarstellerin – und wird nicht enttäuscht. Einem breiteren Publikum ist Marie Bloching durch ihre Rolle in der Amazon-Prime-Serie Die Discounter bekannt. In dieser Sitcom im pseudo-dokumentarischen Stil spielt Bloching die von ihrem Job gelangweilte, selbstsichere und nicht auf den Mund gefallene Kassiererin Lia. Von ihrer Rolle in Schwesterherz könnte das kaum weiter entfernt sein. Denn Rose ist ruhig, nachdenklich und unsicher; eine suchende, sich vorsichtig vorantastende Frau, die ein wenig zu sehr von anderen abhängt und sich erst noch emanzipieren muss. Am Ende sieht es so aus, als hätte sie es geschafft, selbst wenn das bedeutet, den schmerzhaften Schritt zu gehen, sich zwischen ihrem eigenen Bruder und der Wahrheit entscheiden zu müssen.
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